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Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMP) - Behandlung von seltenen und schweren Erkrankungen 

ATMPs, also Arzneimittel für neuartige Therapien, zu erklären ist gar nicht so einfach. Denn bis auf den Begriff haben die sich dahinter verbergenden Therapieoptionen nur eines gemeinsam: Sie brechen mit den Prinzipien der klassischen Arzneimittelentwicklung und eröffnen völlig neue Möglichkeiten der Behandlung von bis dato nicht heilbaren Erkrankungen.

Unter dem Begriff der Arzneimittel für neuartige Therapien (auch ATMPs für Advanced Therapy Medicinal Products) wird eine Gruppe von Therapieoptionen zusammengefasst. ATMPs sind jedoch nicht etwa wie die chemisch-synthetischen Wirkstoffe eine homogene Einheit. Sowohl die Wirkungsweisen der verschiedenen ATMPs als auch ihre Biologie unterscheiden sich. 

Zu den Arzneimitteln für neuartige Therapien gehören drei Arzneimittel-Produktklassen, die somatischen Zelltherapeutika, die Gentherapeutika und die biotechnologisch bearbeiteten Gewebezubereitungen, auch Tissue-Engineering-Produkte genannt. Diese Arzneimittel enthalten oder bestehen meistens aus lebenden Zellen oder Gewebe, das in einem Prozess substanziell weiterbearbeitet wurde. Die verwendeten Zellen werden oft einem Patienten entnommen, im Labor zum Beispiel vermehrt oder gentechnisch verändert und anschließend demselben Patienten wieder verabreicht. 


Somatische Zelltherapeutika

Ein somatisches Zelltherapeutikum ist ein biologisches Arzneimittel, das aus Zellen oder Gewebe besteht, die substanziell bearbeitet wurden, so dass biologische Merkmale, physiologische Funktionen oder strukturelle Eigenschaften verändert wurden. Es kann auch aus Zellen oder Geweben bestehen, die im Empfänger im Wesentlichen nicht denselben Funktionen dienen wie im Spender. In jedem Fall muss ein somatisches Zelltherapeutikum der Behandlung, Vorbeugung oder Diagnose von Krankheiten durch pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkungen der in ihm enthaltenen Zellen dienen.

Beispiele für somatische Zelltherapeutika sind:

  • Immunkompetente Blutzellen wie natürliche Killerzellen, T-Lymphozyten oder dendritische Zellen werden in vitro mit bestimmten Tumor-Antigenen stimuliert. Diese nun auf den Tumor "abgerichteten" Zellen werden nun Krebspatienten verabreicht.
  • Hautzellen werden in vitro vermehrt und mit Fibrin-Kleber bei chronischen Bein-Ulcera verwendet.
  • Insulin-produzierende Inselzellen aus dem Schwein werden zur Behandlung von Diabetes eingesetzt.


Gentherapeutika

Insgesamt enthält das Genom des Menschen rund 20.000 bis 25.000 Gene. Ihr Zusammenspiel ist kompliziert. Seit Jahrzehnten versuchen Forscher die Zusammenhänge zwischen Gen und Krankheit und Gesundheit zu entschlüsseln. Was sie schon lange wissen: Schon kleine Veränderungen in den Genen können reichen, um deren gesunde Funktion zu beeinträchtigen. Fehlen gar ganze Genom-Abschnitte im Erbgut, werden viele Grundinformationen ausgelöscht. Auch das Gegenteil ist möglich: Eine Vervielfältigung von Genen kann das Gleichgewicht stören und so Krankheiten auslösen.

Je nachdem, um welche Krankheit es sich handelt wird versucht, entweder ein gestörtes Gen in der Zelle zu korrigieren, es so umzuprogrammieren, dass es wieder richtig funktioniert, oder ein funktionierendes Gen, das in der Erbinformation fehlt, einer Zelle hinzuzufügen. Nach langer Entwicklung mit vielen Aufs und Abs wurde erst im Jahr 2012 das erste Gentherapiearzneimittel in Europa durch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) zugelassen: Das Arzneimittel ist eine neuartige Therapie, die ein Gen einschleust, das den Abbau von Fettmolekülen aus der Nahrung bei Patienten einleitet, denen aufgrund einer Genmutation das dafür erforderliche Enzym fehlt.


Tissue-Engineering-Produkte

Ein biotechnologisch bearbeitetes Gewebeprodukt (Tissue-Engineering-Produkt) enthält biotechnologisch bearbeitete Zellen oder Gewebe und dient der Regeneration, Wiederherstellung oder dem Ersatz menschlichen Gewebes beim Menschen. Die enthaltenen Zellen oder Gewebe können menschlichen oder tierischen Ursprungs sein. Sie können lebensfähig oder nicht lebensfähig sein. Zudem können diese Produkte als so genannte Kombinationsprodukte auch weitere Stoffe wie bspw. Zellträger oder Gerüst- und Bindesubstanzen enthalten.

Klassische Vertreter dieser Gruppe sind die so genannten autologen Chondrozytenimplantate. Hier werden dem Menschen in einem Operationsvorgang körpereigene Knorpelzellen bspw. aus dem Knie entnommen. Diese werden im Labor angezüchtet und dann, oftmals eingebettet in eine Trägerstruktur, in einem weiteren Operationsvorgang wieder in den Körper eingebracht, um in diesem Beispiel Knieknorpelschäden zu beheben. Vom Prinzip ähnliche Produkte werden auch zum Ersatz menschlicher Haut, zur Rekonstruktion der Harnröhre und für andere Bereiche entwickelt und teilweise bereits vermarktet.
 

Zugang ermöglichen – Versorgung sicherstellen
 

Seit 2008 regelt die Verordnung (EG) Nr. 1394/2007 über Arzneimittel für neuartige Therapien, dass die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) für die Prüfung und Zulassung von ATMP in Europa verantwortlich ist. Auf nationaler Ebene ist in Deutschland das Paul-Ehrlich-Institut für die Zulassung von ATMP, Impfstoffen und anderweitigen Biopharmazeutika zuständig.  

Doch wie viele dieser neuartigen Therapien sind letztendlich in der EU verkehrsfähig?  

2021 Jahr standen insgesamt 14 neue ATMP – der Patientenversorgung zur Verfügung - darunter ein somatisches Zelltherapeutikum, zwei biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte und elf Gentherapeutika .2 Derzeit befinden sich mehr als 1.200 ATMP in der klinischen Erprobung.3 Bereits jetzt zeichnet sich ein Trend ab, dass es in Zukunft vor allem deutlich mehr Gentherapeutika geben wird: Allein in 2020 und 2021 sind fünf Gentherapeutika entwickelt und in der EU zugelassen worden.   

Doch angesichts einer insgesamt eher geringen Anzahl an Zulassungen von innovativen Arzneimitteln, scheinen Hersteller offensichtlich einige Hürden bei der Entwicklung von ATMP überwinden zu müssen. Schätzungen zufolge scheitert jedes vierte Arzneimittel neuartiger Therapien am Zulassungsverfahren. 2 Äußerst kostenintensive klinische Prüfverfahren erschweren oftmals den Markteintritt dieser speziellen Produktklasse. Eine kontrollierte klinische Prüfung von biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukten (TEP) erfordert zum Beispiel häufig einen chirurgischen Eingriff.  

Regulatorische Hürden bei der Zulassung und Erstattung von ATMP bedingen, dass neuartige Therapien längst nicht flächendeckend für Patientinnen und Patienten in Deutschland und Europa zur Verfügung stehen. Der BPI bringt sich daher in gesundheitspolitische Debatten mit ein, bezieht Stellung zu Gesetzesvorhaben und unterbreitet Lösungsansätze in Positionspapieren

Auch auf europäischer Ebene bemüht sich die Europäische Kommission mit ihrer 2020 veröffentlichten Arzneimittelstrategie, den Zugang zu Arzneimitteln für Bürgerinnen und Bürgern in Europa sicherzustellen und zugleich die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit pharmazeutischer Unternehmen zu stärken. Ein ambitioniertes Vorhaben – mit einer noch ambitionierteren Timeline. Bereits Ende 2022 will die Europäische Kommission erste Legislativvorschläge vorlegen. Doch hier ist höchstes Augenmaß geboten: Die Europäische Kommission sollte die Expertise nationaler Behörden und Verbände in ihre Vorhaben einbinden, um eine Überregulierung des europäischen Arzneimittelmarktes zu verhindern. Stets mit dem Ziel vor Augen: Patientinnen und Patienten den Zugang zu neuartigen Arzneimitteltherapien zu ermöglichen.