Multiple Sklerose

Multiple Sklerose

Die Diagnose „Multiple Sklerose“ (MS) klingt für einige Menschen immer noch wie ein Todesurteil, viele denken dabei zumindest unweigerlich an ein Leben im Rollstuhl. Beides ist so nicht richtig. Zwar kann die Nervenkrankheit nach Angaben des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) die Lebenserwartung der Betroffenen um durchschnittlich fünf bis zehn Jahre verringern. Andererseits ist MS aber mittlerweile sehr gut und sehr vielseitig behandelbar.

Richtig ist, dass die meisten Patienten im Verlaufe der Krankheit zumindest zeitweise mit unangenehmen und auch schweren Begleiterscheinungen wie zum Beispiel starker Erschöpfung oder eingeschränkter Mobilität rechnen müssen. Ständige, also zum Beispiel tägliche Beschwerden oder eine vollständige Behinderung können aber oft vermieden werden, wenn entsprechend dem aktuellen medizinischen Stand therapiert wird. Laut UKE ist die Hälfte der Patienten nach fünfzehn Jahren noch gehfähig und damit gar nicht oder nur zeitweise auf einen Rollstuhl angewiesen. Gleichwohl ist die Multiple Sklerose nach wie vor eine unheilbare chronische Krankheit, die in Deutschland nach einer aktuellen Untersuchung des Bundesversicherungsamtes (BVA) etwa 200.000 Menschen betrifft. Meistens bricht MS bereits in jungen Jahren, zwischen 20 und 40 Jahren aus und kann die Lebensqualität zumindest phasenweise stark beeinträchtigen. Ein Kennzeichen der Krankheit können die typischen Schübe sein, die über Tage andauern und dann aber auch wieder für längere Zeit abklingen können. MS tritt jedoch in verschiedenen Ausprägungen auf und verläuft dementsprechend häufig von Patient zu Patient völlig unterschiedlich. Und so gibt es auch Verlaufsformen ganz ohne Schübe.

Dass man die Multiple Sklerose heutzutage in vielen Fällen gut in Schach halten kann, liegt nicht zuletzt auch an den Fortschritten in der Arzneimitteltherapie. Ein großer Durchbruch waren die sogenannten Beta-Interferone, die den Krankheitsverlauf verlangsamen, indem sie Entzündungsprozesse unterdrücken. Später standen dann auch spezielle immunmodulierende Medikamente zur Verfügung, die das Immunsystem so beeinflussen, dass es sich nicht mehr gegen den eigenen Körper wendet und Nervenzellen zerstört. Grundsätzlich geht es in der Therapie zunehmend nicht mehr nur darum, die Schubraten zu reduzieren, sondern darum, den Krankheitsverlauf und somit die fortschreitende Behinderung des Patienten zu verlangsamen. Und auch bei der Behandlung der Krankheitssymptome kommt man voran.

Therapiefortschritte wurden aber nicht nur erzielt, indem neue Wirkstoffe gefunden wurden. Auch die Anwendung der Medikamente wurde patientenfreundlicher, zum Beispiel weil Mittel nicht mehr gespritzt werden müssen, sondern als Tablette eingenommen werden können. Insgesamt spielen Arzneimittel für das Befinden und die Leistungsfähigkeit der Patienten eine nicht zu unterschätzende Rolle. So haben in einer internationalen Umfrage immerhin 40 Prozent der befragten MS-Kranken angegeben, ihre Medikation und die symptomatische Behandlung seien der Grund dafür, dass sie trotz Krankheit weiter berufstätig sein könnten. Zum Vergleich: Eine Reha gaben nur etwa elf Prozent von ihnen als Grund an, obwohl diese ohne Zweifel auch ein wichtiger Baustein der MS-Therapie ist.

Wir wollen Ihnen im Rahmen unseres Themendienstes einen kurzen Überblick über das vielfältige Krankheitsbild MS geben und zeigen, welche unterschiedlichen Therapiemöglichkeiten es gibt. Als Experten haben wir Prof. Dr. Lutz Harms, Oberarzt in der Abteilung für Neurologie an der Berliner Charité interviewt. Der Neurologe spricht über Therapiefortschritte und mögliche Durchbrüche in der zukünftigen Forschung.

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MS äußert sich von Patient zu Patient zwar sehr unterschiedlich, man kann jedoch drei allgemeine Verlaufsformen feststellen: schubförmig-remittierend (RRMS), sekundär-progredierend (SPMS) oder primär-progredierend (PPMS).

RRMS: Patienten, die unter der schubförmig-remittierenden Verlaufsform leiden, erleben dauerhaft Wechsel aus plötzlichen, wiederkehrenden Krankheitsschüben und völliger oder teilweiser Rückbildung (Remittierung) der Krankheit. Die MS kann dabei über lange Zeit hinweg völlig inaktiv sein.

SPMS: Bei Patienten, die von der sekundär-progredierenden Form betroffen sind, schreiten die Krankheit und der Grad der Behinderung konstant voran. Zusätzlich kommt es immer wieder zu Schüben, danach gibt es jedoch im Gegensatz zur RRMS keinerlei Rückbildung der Krankheit. Häufig geht eine RRMS nach etwa 10-15 Jahren in eine SPMS über. Nach Angaben internationaler MS-Experten trifft das statistisch auf etwa jeden zweiten Patienten mit Multipler Sklerose zu.

PPMS: Bei der primär-progredierenden Form beginnen die Beschwerden sehr langsam und kommen mitunter sogar kurz zum Stillstand. Insgesamt jedoch verschlechtert sich die Krankheit zunehmend und die Behinderung nimmt zu. Im Gegensatz zur PPMS treten keine Schübe auf.

MS-Patienten berichten oft von ganz unterschiedlichen Symptomen, die sich zudem im Verlauf der Krankheit ändern können. Zu den häufig geschilderten Anfangsbeschwerden gehören den Medizinern Dr. Günter Krämer und Prof. Dr. Roland Besser zufolge unter anderem Gefühlsstörungen in den Armen oder Beinen, starke Müdigkeit (Fatigue), Darmentleerungsstörungen, Unsicherheiten beim Gehen und Stehen sowie Sehstörungen. Auch Lähmungen und Sprachstörungen werden immer wieder beschrieben. Die mit Abstand häufigsten Symptome, bezogen auf den gesamten Krankheitsverlauf, sind nach Krämer/Besser jedoch Gangstörungen durch Spastik und Kraftlosigkeit in den Beinen. Beide Beschwerden werden von 90 Prozent der MS-Erkrankten angegeben.

Die Vielzahl der möglichen Anfangssymptome und die individuelle Ausprägung machen es dem Arzt nicht leicht, die Multiple Sklerose beim Patienten zweifelsfrei zu diagnostizieren. Es kann sich schließlich immer auch um eine ganz andere Krankheit handeln. Umso wichtiger ist es, dass sich Patienten bei MS-Verdacht an einen neurologischen Spezialisten wenden, der aufgrund seiner Erfahrung weiß, welche Untersuchungen notwendig sind. Nach Angaben des Universitätsklinikums Göttingen möchte der Neurologe „meist mindestens zwei getrennte Episoden gesehen haben, deren Symptome um mindestens einen Monat auseinander liegen und mindestens 24 Stunden lang bestehen bleiben, bevor er einen MS-Verdacht ausspricht.“ Der Arzt wird sich außerdem über mögliche bereits existierende Erkrankungen und genetische Vorbelastungen informieren und sich danach erkundigen, welche Medikamente der Patient vielleicht bereits einnimmt.

Außerdem wird er bestimmte motorische Funktionen, die durch die MS gestört sein könnten, überprüfen, zum Beispiel die Beweglichkeit von Extremitäten oder den Gleichgewichtssinn. Dann werden in der Regel Blutuntersuchungen durchgeführt, jedoch mit dem Ziel andere Krankheiten ausklammern zu können. Bislang lässt sich die Krankheit nämlich nicht im Blut nachweisen. Um die Diagnose weiter zu präzisieren wird mit einer hohlen Nadel Nervenwasser aus dem Rückenmark entnommen. Wenn sich darin bestimmte Eiweißzellen gehäuft nachweisen lassen, verdichtet sich der Verdacht auf eine multiple Sklerose. Noch genauer wird das Bild, wenn das Gehirn per Kernspintomografie untersucht wird und man bereits auf Entzündungsstellen stößt.

MS äußert sich von Patient zu Patient zwar sehr unterschiedlich, man kann jedoch drei allgemeine Verlaufsformen feststellen: schubförmig-remittierend (RRMS), sekundär-progredierend (SPMS) oder primär-progredierend (PPMS).

RRMS: Patienten, die unter der schubförmig-remittierenden Verlaufsform leiden, erleben dauerhaft Wechsel aus plötzlichen, wiederkehrenden Krankheitsschüben und völliger oder teilweiser Rückbildung (Remittierung) der Krankheit. Die MS kann dabei über lange Zeit hinweg völlig inaktiv sein.

SPMS: Bei Patienten, die von der sekundär-progredierenden Form betroffen sind, schreiten die Krankheit und der Grad der Behinderung konstant voran. Zusätzlich kommt es immer wieder zu Schüben, danach gibt es jedoch im Gegensatz zur RRMS keinerlei Rückbildung der Krankheit. Häufig geht eine RRMS nach etwa 10-15 Jahren in eine SPMS über. Nach Angaben internationaler MS-Experten trifft das statistisch auf etwa jeden zweiten Patienten mit Multipler Sklerose zu.

PPMS: Bei der primär-progredierenden Form beginnen die Beschwerden sehr langsam und kommen mitunter sogar kurz zum Stillstand. Insgesamt jedoch verschlechtert sich die Krankheit zunehmend und die Behinderung nimmt zu. Im Gegensatz zur PPMS treten keine Schübe auf.

Nach Berechnungen des Bundesversicherungsamtes (BVA) gibt es in Deutschland etwa 200.000 Menschen, die an Multipler Sklerose leiden. Jeder einzelne von ihnen ist zeitweise oder sogar dauerhaft auf medizinische Hilfe angewiesen. Doch das geschieht nach Meinung von Experten in vielen Fällen nur unzureichend.

Glaubt man Dr. Olaf Hoffmann, dem Ärztlichen Direktor des St.-Josefs-Krankenhauses Potsdam-Sanssouci, dann bekommt nicht einmal die Hälfte aller MS-Patienten eine leitliniengerechte, also von den medizinischen Fachgesellschaften empfohlene Behandlung. Das liege aber nicht nur daran, dass die Krankheit manchmal übersehen werde. Ein wichtiger Grund sei vielmehr, so zitiert die Ärzte Zeitung den Experten, „dass auch unter den derzeitigen Bedingungen der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung die Behandlung von MS-Patienten unterfinanziert ist." Wird hier am falschen Ende gespart, wie so viele Fachleute beklagen? Tatsächlich sind die Kosten, die durch eine Multiple Sklerose verursacht werden können, nicht unerheblich. In einer Analyse der Philipps-­Universität Marburg ist pro Patient von mittleren jährlichen Gesamtkosten von rund 39.000 Euro die Rede. Mehr als die Hälfte davon seien direkte Kosten wie etwa Therapien und Krankenhausaufenthalte, der übrige Anteil würde durch Arbeitsausfall bzw. Frührente indirekt verursacht. Auf der anderen Seite darf man aber nicht vergessen, dass die Ausgaben etwa für Therapien, die positive Effekte auf die Lebensqualität der Betroffenen haben, auch Kosten verhindern können. Zum Beispiel, weil MS-Erkrankte weiterhin im Arbeitsleben bleiben können und eben nicht sofort in Frührente gehen müssen. Die internationale Studie „Survey on employment and MS" der Multiple Sklerosis international Federation (MSIF) hat in diesem Zusammenhang interessante Resultate ergeben. Die Forscher hatten weltweit 8.000 MS-Patienten befragt, unter anderem auch zu den Gründen, warum sie trotz Erkrankung weiter berufstätig bleiben konnten. Der Grund „Medikation/Behandlung von Symptomen" kam dabei nach „stabiler Krankheitsverlauf" auf den zweiten Platz, über 40 Prozent der Befragten gaben ihn an. Der Grund „krankheitsmodifizierende Behandlung" wurde am vierthäufigsten genannt, rund 38 Prozent gaben ihn an.

Die MS-Therapie

Bei der Multiplen Sklerose gibt es verschiedene Therapieansätze, die je nach individueller Krankheitssituation zu unterschiedlichen Zeitpunkten oder auch gleichzeitig verfolgt werden. Zum einen geht es darum, akute Schübe zu behandeln, zum anderen die fortschreitende Krankheit langfristig zu verlangsamen. Ein weiterer wichtiger Ansatz ist die Therapie von Begleitsymptomen wie zum Beispiel Fatigue, sexuelle Störungen oder Spastiken. Insbesondere die Symptomtherapie spielt, das zeigt auch die bereits erwähnte internationale MS-Studie, für die Lebensqualität und nicht zuletzt für die Arbeitsfähigkeit der Betroffenen eine wichtige Rolle. Natürlich haben alle gegen MS eingesetzten Mittel auch Nebenwirkungen, die aber in aller Regel durch die positiven Effekte deutlich aufgewogen werden. Außerdem sind bei Unverträglichkeiten in vielen Fällen Alternativpräparate vorhanden.

Kampf den Schüben - Die Akuttherapie: Die durch die Autoimmunreaktion ausgelöste Entzündung der Nervenhüllen bringt einen akuten Krankheitsschub in Gang. Um das Entzündungsgeschehen zurückzudrängen und den Schub zu verkürzen, gibt man den Patienten in kurzen Intervallen hochdosiertes, kortisonhaltiges Prednisolon. Nach Angaben der Uniklinik Göttingen ist die Kortisontherapie in den ersten fünf Behandlungsjahren besonders wirksam, kann die Krankheit jedoch in ihrem Verlauf auf lange Sicht nicht stoppen. Eine Langzeittherapie mit niedrigen Dosen habe sich hingegen wegen des geringen Effekts und großer Nebenwirkungen nicht bewährt, so heißt es auf der Klinikhomepage. Wenn die Behandlung mit kortisonhaltigen Steroiden nicht erfolgreich ist, kann auch eine Blutwäsche, die sogenannte Immunadsorption helfen, bei der Antikörper aus dem Blut entfernt werden.

Krankheitsverlauf positiv beeinflussen - Die krankheitsmodifizierende Therapie: Um eine Multiple Sklerose in ihrem Verlauf positiv zu beeinflussen, bedarf es meistens einer kontinuierlichen Therapie, die direkt in die Krankheitsvorgänge eingreift. Zu diesem Zweck gibt es zwei spezielle Arzneimitteltypen: Immunsuppressiva und Immunmodulatoren. Die Immunsuppressiva unterdrücken, wie der Name schon sagt, die überschießende Reaktion des Immunsystems. Die Immunmodulatoren greifen aktiv in den komplizierten Entzündungsprozess ein, indem sie den entzündlichen Prozess verändern. Es geht letztlich darum, das Fortschreiten der MS positiv zu beeinflussen. Heilbar ist die Erkrankung nach wie vor nicht, aber es können Krankheitsschübe verhindert und das Fortschreiten der Behinderung verlangsamt werden. Welches Präparat dafür genau zum Einsatz kommt, hängt immer von der individuellen Krankheitssituation sowie den Bedürfnissen und Vorlieben des Patienten ab. Früher hat man grundsätzlich mit der sogenannten Basistherapie begonnen und ist, wenn keine entsprechende Wirkung erzielt wurde, auf die Eskalationstherapie umgestiegen. Im Jahr 2014 hat jedoch das Kompetenznetzwerk Multiple Sklerose die Behandlungsleitlinie aktualisiert und das feste Stufenschema verworfen. Nach neuestem Stand therapiert man nunmehr allein nach Verlaufsformen.

Das heißt: Wenn die MS-Erkrankung mild oder moderat verläuft, gibt man den Patienten Interferone oder den Wirkstoff Glatirameracetat, die die Patienten selbst injizieren. Neuerdings gibt es hier mit Teriflunomid und Dimethylfumarat auch Alternativen in Tabletten- bzw. Kapselform.

Wenn die MS-Erkrankung „hoch-aktiv" verläuft, therapiert man hingegen direkt mit sogenannten monoklonalen Antikörpern wie Alemtuzumab oder Natalizumab als Infusion bzw. Fingolimod in Tablettenform. Diese hochspezifischen, biotechnologisch hergestellten Wirkstoffe können ganz gezielt an verschiedenen Stellen wirken und den Krankheitsprozess nachhaltig positiv beeinflussen. Zum Beispiel können die Immunzellen daran gehindert werden, die Blut-Hirn-Schranke zu überschreiten.

Beschwerden lindern - Die Symptomtherapie

Oftmals sind es einzelne Begleitsymptome wie starke Müdigkeit, Spastiken, Blasenentleerungsstörungen oder Depressionen, die den MS-Patienten im Alltag am stärksten zusetzen. Gegen viele dieser Beschwerden gibt es Therapieoptionen. So können zum Beispiel Spastiken zum einen durch Krankengymnastik, zum anderen auch mit speziellen Medikamenten behandelt werden. Auch für alle anderen genannten Probleme und Schmerzen im Allgemeinen stehen wirksame Präparate zur Verfügung. Daneben kommt auch der Physiotheraphie eine wichtige Rolle zu, denn mäßige körperliche Aktivität und spezielle Beweglichkeits- bzw. Koordinationsübungen können den Gesundheitszustand sowie auch die Psyche des MS-Patienten positiv beeinflussen.

Prof. Dr. Lutz Harms ist Oberarzt an der Neurologischen Klinik der Berliner Charité. Seit 2007 leitet er eine Arbeitsgruppe für Klinische Neuroimmunologie der Berliner Charité und forscht mit seinen Mitarbeitern an der Verbesserung der diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten bei neuroimmunologischen Erkrankungen, insbesondere bei der Multiplen Sklerose.

Wie entsteht Multiple Sklerose eigentlich und warum sind hauptsächlich jüngere Menschen davon betroffen?

Prof. Harms: Es gibt viele Theorien, warum eine MS entsteht aber auch sehr viele Unklarheiten. Wir kennen zwar eine Reihe von Ursachen aber das Problem ist, dass es eine multifaktoriell entstehende Krankheit ist. Neben genetischen kommen auch bestimmte Umweltfaktoren hinzu. Was wir sicher wissen ist, dass bei MS das Immunsystem außer Kontrolle gerät und periphere aktivierte Lymphozyten, also weiße Blutkörperchen der Immunabwehr, durch die Bluthirnschranke dringen. Warum das so ist, ist aber noch nicht ganz geklärt, wahrscheinlich tarnen sie sich in gewisser Weise. Und dann kommt im Gehirn der Entzündungsprozess in Gang, der zu den gefürchteten Symptomen der MS führt. In der ersten Entzündungswelle wird Myelin, die Nervenhülle, zerstört. Daneben kommt es zu einer sekundären neurodegenerativen Phase, die offensichtlich schon früher anläuft, als wir das bisher gedacht haben. Hierfür sind ortsständige Immunzellen wie Mikroglia und Astrozyten verantwortlich.

Warum nun gerade junge Menschen betroffen sind, darüber lässt sich nur spekulieren. Vermutlich spielt die Reifung des Immunsystems eine Rolle. Wir gehen ja bei der MS davon aus, dass bestimmte Auseinandersetzungen mit Fremd-Antigenen zu einer Aktivierung des Immunsystems führen. Dann richtet sich dieses Immunsystem gegen die eigenen Körper­substanzen und möglicherweise ist hierzu ein aktiveres Immunsystem notwendig, wie wir es bei heranreifenden Jugendlichen und jungen Menschen finden. So ist es auch bei anderen Autoimmunkrankheiten, beispielsweise bei bestimmten rheumatologischen Erkrankungen. Im Übrigen sind ja im Durchschnitt mehr als doppelt so viele Frauen wie Männer von MS betroffen, es werden also wohl auch hormonelle Faktoren eine Rolle spielen.

Die Krankheitssymptome sind bei MS ja gerade am Anfang individuell sehr unterschiedlich. Wie lässt sich die Krankheit dann eigentlich zweifelsfrei diagnostizieren?

Prof. Harms: Zunächst indem man sich die Symptome genau anschaut. Die einzelnen Beschwerden hängen ja davon ab, wo sich der initiale Entzündungsprozess abspielt. Da gibt es Vorzugslokalisationen, zum Beispiel am Sehnerv. Sehr oft klagen diese Patienten zu Beginn über einen sich dann meistens wieder zurückbildenden Sehverlust oder zumindest deutliche Sehstörungen, in der Regel auf einem Auge. Es können auch Sensibilitätsstörungen auftreten, Lähmungen oder Koordinationsstörungen. Das sind erst einmal sehr unspezifische Symptome, die den Patienten dann zum Arzt führen. Aber heute haben wir klare Kriterien, die eine MS definieren und wie wir sie eindeutig diagnostizieren können. Hierbei steht die Kernspintomographie ganz im Mittelpunkt. Der Grundsatz ist immer der gleiche, wir müssen beweisen, dass wir eine Dissemination in Raum und Zeit haben, d.h. eine Krankheit, die in mehreren fokalen Entzündungsaktivitäten abgelaufen ist. Dies kann man durch die Bildgebung feststellen, wenn bestimmte, definierte Hirnregionen betroffen sind, Herde unterschiedlichen Alters vorliegen oder bestimmte Veränderungen im Nervenwasser vorliegen und wir ausschließen können, dass eine andere Krankheit in Frage kommt, die ein ähnliches Muster hervorrufen kann. Zur Diagnostik gehören also auch eine Lumbalpunktion und oft bestimmte elektrophysiologische Untersuchungen.

Die MS-Diagnose ist für viele Betroffene ein Schock, nicht wenige denken sofort an ein Leben im Rollstuhl. Ist dieser Weg wirklich vorgezeichnet?

Prof. Harms: Das kann man, Gott sei Dank, so heute nicht mehr sagen. Nichtsdestotrotz können wir MS immer noch nicht heilen. Es gibt statistische Daten darüber, wie lange es braucht, bis eine Gehunfähigkeit erreicht wird, im Schnitt sind es zwischen 20 und 30 Jahren. Das ist aber sehr allgemein gesagt, denn viele Patienten sind davon gar nicht betroffen. Außerdem sind das Daten, die aus der Vergangenheit stammen und die die modernen Therapiemaßnahmen noch nicht voll berücksichtigen. Klar ist allerdings, dass sich die Behinderung generell nicht total aufhalten lässt und dass auch das Leben der MS- Betroffenen statistisch gesehen um einige wenige Jahre verkürzt sein kann. Im Einzelfall mag das aber immer wieder anders aussehen und deswegen lässt sich der Verlauf schwer prognostizieren.

Es gibt viele Patienten, die trotz MS-Diagnose voll berufstätig bleiben können. Manche, zum Beispiel die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz Malu Dreyer, können sogar Führungspositionen bekleiden. Sind das seltene Ausnahmen?


Prof. Harms: .Es gibt sehr viele Betroffene, die sehr lange berufstätig bleiben können und anspruchsvolle Positionen bekleiden, zum Beispiel weil die Therapie so gut greift oder die Patienten das Glück haben, eine milde Verlaufsform zu haben. Mit dem Begriff "benigne", also gutartige Verlaufsformen, würde ich aber sehr vorsichtig umgehen. Statistisch betrachtet ist nach zehn, zwölf Jahren sicherlich die Hälfte der Patienten arbeitsunfähig. Da geht es dann aber nicht unbedingt um Geh- und Bewegungsstörungen sondern sehr häufig um das gefürchtete Fatigue-Symdrom, das Erschöpfungssyndrom, das oft zur Arbeitsunfähigkeit führt.

Wie kann man MS eigentlich therapieren?

Prof. Harms: Grundsätzlich gibt es drei Säulen der Therapie. Zunächst einmal die akute Schubtherapie. Standardmäßig behandelt man hier mit einem hochdosierten kortisonhaltigen Präparat, in der Regel mit Methylprednisolon.  Wenn das nicht ausreicht, kann man noch eine Blutwäsche, eine sogenannte Plasmapherese (PE) oder Immunadsorption (IA), durchführen. Damit verkürzt man den Schub und verhindert das Ausmaß dieser initialen Entzündung. Da die Intensität und Frequenz der Schübe gerade in der Frühphase der Erkrankung einen Einfluss auf den Langzeitverlauf haben, ist es ratsam, konsequent nach der Diagnosestellung mit einer schubprophylaktischen Therapie zu beginnen.

Das bedeutet, eine Immunmodulation oder Immunsuppression vorzunehmen, um die Schübe zu verhindern, in der Hoffnung, dass damit die Behinderungsprogression gestoppt oder zumindestens verlangsamt werden kann. Und wenn wir Patienten haben, die nicht darauf reagieren, wird man das Medikament wechseln und eine Umstellung auf ein Medikament mit anderem Wirkmechanismus oder höherer Effektivität vornehmen. Das dritte Standbein wäre dann die symptomatische Therapie, die man nicht vernachlässigen darf. Da geht es natürlich um die Verbesserung der Lebensqualität, sei es durch die Beeinflussung von Spastik, Störungen der Sexualfunktion oder Blasen- und Mastdarmstörungen, sei es die Behandlung von Depressionen, oder der sogenannten Fatigue. Das ist für das Befinden der Patienten ungemein wichtig.

Was tut sich denn aktuell in der Medikamentenforschung? Gibt es mit Blick auf MS in der letzten Zeit Fortschritte?

Prof. Harms: Ja, gerade die letzten Jahre waren ausgesprochen aufregend durch etliche neue Erkenntnisse und die Zulassung neuer, sehr wirksamer Medikamente, die alle das eine Ziel verfolgten, die Schubfrequenz zu reduzieren. Wir verfügen heute über ein umfangreiches Portfolio von Medikamenten sehr differenter Wirkungsweise, die sich auch hinsichtlich der Applikationsart und des Nebenwirkungsprofils unterscheiden. .

Im vergangenen Jahr wurde zudem das erste Medikament für die primär progrediente Verlaufsform der MS zugelassen, die wir bis dahin nur symptomatisch behandeln konnten. Nun warten wir auf die Zulassung eines Präparates für die sekundär progrediente Form der MS.

Studien mit Medikamenten, die eine Regeneration der Nervenhüllen bewirken, haben bisher nur marginale Effekte gezeigt. Aber auch auf diesem Gebiet wird intensiv geforscht. Das durch die Entzündungsprozesse zerstörte Myelin kann sich nur bedingt erholen. Hier scheint eine körpereigene Hemmung vorzuliegen und es besteht die Hoffnung, mit monoklonalen Antikörpern diese Hemmung aufzuheben, so dass die Myelin bildenden Oligodendozyten wieder in die Lage versetzt werden, eine Reparatur vorzunehmen. In Tierexperimenten war dieser Ansatz bereits erfolgreich.

Gibt es auch Fortschritte in der Therapieoptimierung oder bei bewährten Wirkstoffen?

Prof. Harms: Ja, lange Jahre hatten wir nur die Spritzentherapie, die Patienten mussten sich in unterschiedlicher Häufigkeit selbst spritzen. Dann kamen die oralen Therapien dazu oder neue monoklonale Antikörper, sehr wirksame Therapien durchaus, zum Teil aber mit einem Risiko ernster Nebenwirkungen behaftet.  Für die gefürchtete progrediente multilokuläre Leukenzephalopathie (PML) unter der Behandlung mit Natalizumab, die durch ein Papoavirus hervorgerufen wird, haben wir heute die Möglichkeit, das Risiko für den einzelnen Patienten besser zu stratifizieren. Außerdem gab es Veränderungen bewährter Medikamente in Spritzenform. Diese werden anwenderfreundlicher, so dass Patienten nicht mehr so häufig spritzen müssen. Auch Rückschläge kamen vor. Ein vielversprechendes Medikament musste wegen unerwarteter Nebenwirkungen im vergangenen Jahr wieder vom Markt genommen werden. Andere neue Medikamente mit neuen Wirkmechanismen haben den Vorteil, nur selten appliziert werden zu müssen, z.B. halbjährig intravenös oder nur jährlich für zwei Jahre in mehrtägigen Zyklen.

Was ist neben Arzneimitteln eigentlich noch entscheidend für die MS- Therapie?

Prof. Harms: Da gibt es eine Reihe von Aspekten, beispielsweise Erkenntnisse im Bereich Prävention. So hat man in den letzten Jahren sehr viel Neues über Risikofaktoren erforscht, zu Faktoren also, die die MS vorantreiben, die Schubfrequenz erhöhen und die Behinderungsprogression beschleunigen. Ein Beispiel ist hier das Rauchen. Auch übermäßiger Salzkonsum könnte negative Auswirkungen haben. Aber wir kennen auch zunehmend Faktoren, die vielleicht schützend wirken, wie etwa Vitamin D, von dem MS-Patienten meist zu wenig im Körper haben. Es gibt daneben viele andere Forschungsansätze zu MS, z.B. über die Rolle der Darmflora oder über die Wirkung von Parasiten.

Kürzlich wurde die Vermutung publiziert, dass reichliches Kaffeetrinken möglicherweise einen gewissen Schutz liefern könnte oder die Krankheit abmildert. Auf all diesen Gebieten gibt es Fortschritte, oft fehlt aber noch die belastbare Evidenz Wichtig neben der symptomatischen Therapie ist aber auch die Rehabilitation bzw. physiotherapeutische Maßnahmen und die Erhaltung der Lebensaktivität. Die Patienten zu motivieren, Ausdauersport im Rahmen der Möglichkeiten zu betreiben, mit der Krankheit ein erfüllendes Leben zu führen und auch das gesamte soziale Umfeld mit zu betrachten, all das ist entscheidend.

Vielen Dank für das interessante Gespräch.

MS kann einschneidende Auswirkungen auf den Berufsalltag haben, wie eine Studie der Multiple Sklerosis International Federation (MSIF) verdeutlicht. Die Organisation hatte dazu weltweit über 8.000 MS-Patienten befragt.

Das Spektrum der Antworten zu den beruflichen Auswirkungen reicht von der Arbeitszeitreduzierung (rund ein Drittel der Befragten) über kurzzeitige Pausen von einigen Monaten (rund ein Viertel) bis hin zu längerem Arbeitsausfall (rund 10 Prozent). Rund 19 Prozent der Befragten haben krankheitsbedingt den Job gewechselt oder ihre Tätigkeit geändert. Zu beachten ist, dass auch mehrere der genannten Auswirkungen zugleich zutreffen können, zum Beispiel, wenn nach einem Arbeitsausfall der Job gewechselt wurde oder nach einem Tätigkeitswechsel die Arbeitszeit reduziert wurde. Interessant ist, dass rund ein Drittel der Befragten angegeben haben, dass die MS-Erkrankung zum Zeitpunkt der Befragung keine Veränderung im Berufsalltag mit sich gebracht hat.

  • Frauen nach Angaben der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) mehr als doppelt so häufig von MS betroffen sind? Forscher vermuten, dass bestimmte genetische bzw. hormonelle Bedingungen dafür verantwortlich sind.
     
  • Bewohner klimatisch gemäßigter Zonen häufiger an MS erkranken als Menschen, die näher am Äquator wohnen? Die Gründe dafür sind unbekannt, Forscher vermuten, dass Sonneneinstrahlung und Vitamin D-Bildung dabei eine Rolle spielen.
     
  • man es trotz MS-Erkrankung in der Politik weit bringen kann? Ein Paradebeispiel ist Malu Dreyer, die seit Anfang 2013 Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz ist.
     
  • die meisten MS-Patienten gar nicht dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen sind? Nach Angaben der Universität Göttingen sind etwa 15 Prozent von ihnen im späteren Krankheitsstadium stark behindert.
     
  • ein gewisser Eduard von Rindfleisch wesentliche Erkenntnisse zur MS-Forschung beigetragen hat? Der deutsche Pathologe erkannte Mitte des 19. Jahrhunderts, dass die Nervenschädigungen durch Entzündungen im Gehirn entstehen.
     
  • MS die häufigste organische Erkrankung des Zentralnervensystems ist? Nach Angaben der DMSG leiden in Deutschland ca. 130.0000 Menschen daran, nach Zahlen des Bundesversicherungsamtes sind es vermutlich noch mehr.
     
  • es für MS-Patienten speziell trainierte Servicehunde gibt? Die Tiere helfen den oft körperlich stark eingeschränkten Betroffenen bei Alltagsdingen wie zum Beispiel dem Sockenanziehen.
     
  • man noch in den 60er Jahren fälschlicherweise vermutete, dass Quecksilber in Amalgamfüllungen MS auslösen könnte? Deshalb verbannte man kurzerhand das Quecksilber aus den Zahnfüllungen.
     
  • sogenannte McDonald-Kriterien gibt, die rein gar nichts mit Fastfood zu tun haben? Es handelt sich vielmehr um ein Diagnoseschema für MS, das nach der Expertengruppe um den Forscher Ian McDonald benannt wurde.
     
  • die britische MS-Patientin Eva Sundin nach Angaben von Spiegel online im Jahr 2014 einen Halbmarathon geschafft hat? Von Freunden gestützt habe sie dafür insgesamt sieben Tage benötigt, drei Kilometer am Tag.

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