ATMP

ATMP – eine neue Generation von Arzneimitteln

Eine neue Ära von Arzneimitteln ist eingeläutet: Gentherapien und andere neuartige Therapieansätze bahnen sich ihren Weg in die Versorgung – und packen schwere Erkrankungen an der Wurzel an.

Diese Therapeutika basieren nicht auf chemisch-synthetischen Wirkstoffen wie herkömmliche Arzneimittel, sondern auf Genen, Zellen oder Gewebe. Sie werden auch ATMP genannt: „Advanced Therapy Medicinal Products“. Was bringen diese ATMP den Patientinnen und Patienten? Inwieweit müssen die Strukturen unseres Gesundheitssystems auf diese neuartigen Therapien neu zugeschnitten werden?
Schließlich stoßen alle Beteiligten bei Forschung, Zulassung und Anwendung auf Besonderheiten und Hindernisse. Doch hinter diesen Ansätzen steht die Idee einer Heilung, und die ist in Sicht.
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Die Sehkraft kann erhalten werden. Kindern bleiben schwere Behinderungen erspart, an denen sie sterben würden. Oder bisher unbehandelbare Krebserkrankungen können für Jahre zurückgedrängt werden. Das sind Erfolge einer neuen Generation von Arzneimitteln: den ATMP.

ATMP, das bedeutet „Advanced Therapy Medicinal Products“, im Deutschen als „Arzneimittel für neuartige Therapien“ bezeichnet. Diese Arzneimittel bringen Hoffnung für viele schwerkranke Patientinnen und Patienten, bei denen andere Therapien meist ausgeschöpft sind – oder für die es bisher keine Behandlungsmöglichkeiten gibt. Oft handelt es sich um genetisch bedingte, seltene Erkrankungen, oft sind Kinder betroffen. „Ich habe schon viele Kinder mit angeborenen Erkrankungen sterben sehen“, sagt Prof. Dr. Ulrike Schara-Schmidt, Leiterin der Neuropädiatrie am Universitätsklinikum Essen. Sie behandelt zum Beispiel Kinder, die an einer spinalen Muskelatrophie erkrankt sind. Aufgrund eines Gendefekts gehen bei den betroffenen Kindern alpha-Motoneurone im Vorderhorn des Rückenmarks zu Grunde – Nervenzellen, die für die Steuerung der Skelettmuskulatur zuständig sind. Muskelschwund bis hin zum Tod ist die Folge.

Körper stellt lebensnotwendigen Stoff selbst her
„Es ist unglaublich, welche Möglichkeiten die Gentherapie eröffnet“, so Schara-Schmidt. Durch eine Gentherapie wird der Körper in die Lage versetzt, einen lebensnotwendigen Stoff, der aufgrund eines Gendefekts fehlt, wieder selbst herzustellen. Oder Zellen des Immunsystems werden gentechnisch so aufgerüstet, dass sie Krebszellen erkennen und markieren können, so dass das Immunsystem sie zerstören kann. „ATMP und insbesondere Gentherapien sind eine Generation von Arzneimitteln, die an den Ursachen einer Erkrankung ansetzen. Eine Heilung ist angestrebt“, sagt Dr. Matthias Wilken, Geschäftsführer Market Access, Märkte und Versorgung beim Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V. (BPI).

ATMP sind keine Tabletten und nicht chemisch definiert wie herkömmliche Arzneimittel, sondern bestehen aus Genen, Zellen oder Geweben. Diese biologischen Arzneimittel sind individuell auf die jeweilige Patientin oder den jeweiligen Patienten abgestimmt. Das Produkt wird gespritzt oder als Infusion verabreicht. Oft reicht eine einmalige Behandlung. ATMP unterteilen sich in drei Produktklassen: Gentherapeutika, somatische Zelltherapeutika und biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte. Insgesamt sind bisher in Deutschland über 20 Arzneimittel (s. Listen beim Paul-Ehrlich-Institut) aus dem Bereich der ATMP zugelassen.

Bei der Gentherapie werden entweder gesunde Gene in den Körper des Patienten oder der Patientin geschleust oder Zellen, die ihr oder ihm entnommen wurden, genetisch modifiziert. Entsprechend wird zwischen einer nicht zellbasierten Gentherapie und einer zellbasierten Gentherapie unterschieden. Insgesamt sind 12 Gentherapeutika zugelassen. (Stand: Dezember 2022)

Mit dem Gentaxi in die Zelle: Klassische Gentherapie
Bei der klassischen Gentherapie werden defekte Gene ersetzt, entfernt, reguliert oder repariert.
Bei den meisten bisher zugelassenen Gentherapien (s. Kapitel 5) schleusen die Mediziner eine funktionsfähige Version des defekten Gens in die Zellen. Dafür verwenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Viren als „Gentaxi“. Denn Viren sind Spezialisten darin, Erbgut in die Zellen einzuschleusen. Allerdings sind diese Viren unschädlich: Sie machen nicht mehr krank und können sich nicht mehr vermehren, sondern transportieren das betreffende Gen nur noch als leere Hülle in die gewünschten Zellen.

Ein Beispiel für eine nicht zellbasierte Therapie ist die Gentherapie bei der seltenen Immunkrankheit ADA-SCID. Ein damals vierjähriges Mädchen erhielt die erste Gentherapie als Patientin. (s. Kapitel Geschichte). Bei diesem angeborenen schweren Immundefekt können die betroffenen Kinder Infektionen nur ungenügend abwehren. Weil sie praktisch wehrlos gegen eine Infektion mit Viren und Bakterien sind, sterben die meisten Kinder in der Regel innerhalb von zwei Jahren. Aufgrund eines Gendefekts fehlt das Enzym „Adenosin-Desaminase“ (ADA), so dass der Körper keine weißen Blutkörperchen – die Schlüsselzellen des Immunsystems – bilden kann. Zuvor gab es nur eine Enzym-Ersatztherapie, die das Immunsystem jedoch nicht dauerhaft reparieren konnte. Seit 2016 ist in der EU eine Gentherapie zugelassen, bei der eine korrekte Version des ADA-Gens in die Blutstammzellen des Patienten oder der Patientin transportiert wird. Dadurch kann der Körper selbst das Enzym produzieren und das Immunsystem wieder normal funktionieren.

Aufgerüstete Zellen: Zellbasierte Gentherapie
Bei der zellbasierten Gentherapie werden bestimmte Zellen im Labor genetisch so modifiziert, dass sie zusätzliche Funktionen, wie zum Beispiel die Abwehr von Krebszellen, übernehmen können.
Dafür wird den betreffenden Zellen ein Gen oder Genschnipsel in das Erbgut eingebaut.

Besonders vielversprechend ist die sogenannte CAR-T-Zell-Therapie, die vor allem bei schweren Krebserkrankungen zum Einsatz kommt. Dafür werden der Patientin, dem Patienten T-Zellen des Immunsystems entnommen, und mit einem sogenannten chimären Antigenrezeptor (CAR) versehen – einer Art Antenne, die die Krebszellen erkennen kann. „Krebszellen maskieren sich, um dem Immunsystem zu entgehen“, erklärt Dr. Pablo Serrano, Geschäftsfeldleiter Innovation und Forschung beim BPI. „Die T-Zellen werden bei der CAR-T-Zell-Therapie regelrecht darauf getrimmt, dass sie die Krebszellen demaskieren und so kennzeichnen können, dass auch andere Immunzellen sie als bösartig erkennen. So kann das Immunsystem die Krebszellen gezielt zerstören.“ Forscherinnen und Forscher bauen das Gen für das CAR-Molekül in die T-Zellen ein. Die auf diese Weise „frisierten“ Zellen werden dem Patienten anschließend wieder zurückgegeben. Spektakulär ist die Genesung von Emily Whitehead, die an einem aggressiven Blutkrebs erkrankt war. Die damals Sechsjährige wurde in Philadelphia im Jahr 2012 mit Hilfe einer CAR-T-Zell-Therapie behandelt. Seit nun mehr als zehn Jahren zeigt sie keinerlei Anzeichen einer Krebserkrankung mehr.

CAR-T-Zelltherapien kommen vor allem bei verschiedenen Blutkrebsarten (Leukämien, Lymphome, Myelome) zum Einsatz. 2022 erhielt zum Beispiel eine CAR-T-Zell-Therapie gegen ein multiples Myelom – eine Krebserkrankung des Knochenmarks – die Zulassung. Bei Patientinnen und Patienten mit multiplem Myelom, das zurückgekehrt war und auf drei oder mehr Behandlungen nicht angesprochen hatte, zeigte sich: Eine einzelne Infusion kann die Krebszellen eliminieren, bei knapp 70 Prozent der Betroffenen waren die Anzeichen von Krebs nach eineinhalb Jahren verschwunden.

Im Unterschied zur zellbasierten Gentherapie wurden bei den somatischen Zelltherapeutika die Zellen nicht genetisch verändert. Sie wurden allerdings substanziell bearbeitet, so dass biologische oder strukturelle Merkmale oder physiologische Funktionen verändert wurden. Die lebenden Körperzellen können von der Patientin oder dem Patienten selbst, von einem anderen Menschen oder von einem Tier stammen.

So wurde zum Beispiel ein somatisches Zelltherapeutikum gegen Analfisteln im Jahr 2018 von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) zugelassen. Eine Analfistel ist eine unnatürliche Verbindung zwischen Enddarm und Körperoberfläche, die sehr schmerzhaft sein kann. Solche Fisteln bilden sich oft im Zusammenhang mit der entzündlichen Darmkrankheit Morbus Crohn. Oft können Ärztinnen und Ärzte komplexe Fisteln, bei denen mehrere Hohlgänge zwischen Darm und Haut bestehen oder die mit Eiter gefüllt sind oder sehr tief reichen, nicht behandeln. Doch genau hier setzt die neue Therapie an.

Für die Herstellung des Arzneimittels werden aus dem Fettgewebe eines fremden Spenders spezielle Stammzellen entnommen und im Labor vermehrt. Etwa 120 Millionen dieser Zellen spritzen die Behandelnden daraufhin in die Wände der Analfistel und deren Umgebung. Dort erzeugen die Zellen entzündungshemmende Botenstoffe. Bei etwa der Hälfte der Patientinnen und Patienten führt die Behandlung zu einem Heilerfolg. Wie meistens bei den ATMP wird die Injektion nur einmal verabreicht.

Auch das zweite in der EU/Deutschland zugelassene somatische Zelltherapeutikum basiert auf Stammzellen. Es wird Patientinnen und Patienten mit einer chronisch-venösen Insuffizienz und damit einhergehenden chronischen Geschwüren an den Unterschenkeln verabreicht. Das Arzneimittel unterstützt dabei, dass sich die Wunden wieder schließen können.

Zähne, Nervengewebe, Rückenmark, Haut, Harnröhre, Herzmuskel – wie bestechend der Gedanke, defektes Gewebe ersetzen oder wiederherstellen zu können.
Doch leider gibt es nur sehr wenige Produkte auf dem Markt.

Ein biotechnologisch bearbeitetes Gewebeprodukt (Tissue Engineered Product, TEP) ist ein Arzneimittel, das biotechnologisch bearbeitete Zellen oder künstlich gezüchtetes Körpergewebe enthält oder vollständig aus ihnen besteht. Es dient der Regeneration, der Wiederherstellung oder zum Ersatz menschlichen Gewebes.

Jugendliche und Erwachsene mit begrenzten Knorpeldefekten im Knie können seit 2017 mit einem zugelassenen Gewebeprodukt behandelt werden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kultivieren dafür patienteneigene Knorpelzellen im Labor, um ein Stoffgemisch mit dreidimensionalen Zellkulturen herzustellen. Diese Suspension wird ins Knie injiziert. Dort haftet das implantierte Gewebe an der betroffenen Stelle und produziert neues Gewebe. Studien zeigten, dass diese Methode bereits Symptome linderte und zu besseren Kniefunktionen führte.

Bereits 2015 wurde ein biotechnologisch bearbeitetes Gewebeprodukt zugelassen, das bei Verbrennungen und Verätzungen des Auges eingesetzt wird. Die betroffenen Menschen drohen zu erblinden, das Arzneimittel ist für sie eine letzte Hoffnung. Es besteht aus Gewebe, das patienteneigene Hornhautzellen sowie bestimmte Stammzellen enthält.

Womöglich haben solche Gewebeprodukte aber keine große Zukunft. „Aufgrund der 2008 eingeführten europäischen ATMP-Verordnung ist die Herstellung von Gewebeprodukten für die meisten pharmazeutischen Unternehmen – meist kleine oder mittlere Unternehmen – unwirtschaftlich“, sagt Dr. Serrano vom BPI. „Die Produkte werden individualisiert für einen bestimmten Patienten hergestellt und oft im Rahmen der sogenannten Krankenhausausnahme – ohne zentrale Zulassung – nur in wenigen spezialisierten Kliniken diesem einzelnen Patienten gegeben.“ Für derartige Produkte ist eine zentrale europäische Zulassung nicht unbedingt geeignet, „der Aufwand und die Kosten dafür überwiegen die erwartbare Erstattung“, so Dr. Serrano.
Somit ist dieses Modell auch nicht wirtschaftlich für viele Firmen.

Es klingt so einfach: Ein defektes Gen wird durch ein intaktes ersetzt. Viren schleusen das funktionierende Gen in die Zellen ein. Doch die Geschichte der Gentherapie besteht aus tausenden von Studien, verbunden mit vielen Rückschlägen und leider auch einigen Todesfällen.

1990
Ein vierjähriges Mädchen, Ashanti De Silva, war im Jahr 1990 der erste Mensch, der sich einer Gentherapie unterzog. Das Mädchen litt an einem schweren, genetisch bedingten Immundefekt, ADA-SCID genannt. (s. Kapitel 2). Jede Infektion bedeutete für sie Lebensgefahr. In einer Klinik in einem Vorort von Washington erhielt sie eine Spritze mit ihren eigenen, im Labor gentechnisch veränderten, T-Zellen. Die T-Zellen wurden mit einem funktionsfähigen ADA-Gen ausgestattet, um das Immunsystem funktionsfähig zu machen. Ashanti lebt bis heute, wenn sie auch nicht ganz geheilt ist: Nach und nach verschwanden die eingeschleusten Gene wieder aus ihrem Körper, so dass sie bis heute behandelt werden muss.

Eine Erkenntnis: Es kann sein, dass eine Gentherapie nicht lebenslang wirkt. Doch insgesamt war das ein großer Erfolg, auf den ein Boom der Gentherapie in den 1990er Jahren folgte. Doch ab dem Jahr 1999 machte sich große Ernüchterung breit. Die Gentherapie-Forschung erhielt durch eine Tragödie einen großen Dämpfer.

1999
An der Universität Pennsylvania meldete sich der 18-jährige Jesse Gilsinger freiwillig für eine Gentherapie, er litt an einer erblich bedingten Lebererkrankung. 38 Billionen Viren wurden ihm injiziert – zu viele. Er starb an einer Überreaktion des Immunsystems. Ein besonders tragischer Vorfall auch deshalb, weil seine Erkrankung nicht lebensbedrohlich war. „Dieses traurige Ereignis sorgte für erhebliche Ängste und warf die Forschung an Gentherapien um ein Jahrzehnt zurück.“, sagt Dr. Wilken vom BPI. Die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA stoppte darauf hin alle Studien und die Gentherapie geriet in Verruf.

Art und Anzahl der Viren in Gentaxis mussten optimiert werden. Doch fast zur selben Zeit konnten Gentherapie-Forschende in Paris einen großen Erfolg feiern.

Anfang 2000
Babys mit der SCID-X1-Krankheit – einem ähnlich schweren Immundefekt wie bei Ashanti – wurden durch eine Gentherapie von der tödlich verlaufenden Erkrankung dauerhaft geheilt.
Das war ein großer Fortschritt. Doch bei einigen der Kinder kam es Jahre später zu unerwartet schweren Nebenwirkungen: Sie erkrankten an Leukämie. Offenbar wurden Gene aktiviert, die eine Krebsentstehung fördern. Denn die Ärzte können nicht kontrollieren, wo genau sich das neue Gen mit Hilfe der Viren einbaut.

Nach diesen Vorfällen wurde klar: Forscherinnen und Forscher müssen noch weitere „Hausaufgaben“ erledigen: Sie müssen herausfinden, wie sich eine Überreaktion des Immunsystems und eine Krebsentstehung vermeiden lassen. Welche Viren sind als Gentaxi am sichersten für Patientinnen und Patienten? Wie viele sind wirksam, ohne zu schaden?

2009
Blinde wieder sehend machen: Dieser Traum ging in Ansätzen in Erfüllung. Ärztinnen und Ärzten in London gelang es, die Sehkraft des 18-jährigen Steven Howarth, der an der Leberschen kongenitalen Amaurose litt, zumindest teilweise wiederherzustellen. Bei dieser erblichen schweren Augenerkrankung ist das Gen RPE-65 defekt, so dass die Netzhaut zerstört wird. Die Betroffenen erblinden oft schon als Kinder. Es dauerte allerdings noch fast zehn Jahre, bis im Jahr 2018 eine Gentherapie gegen die Erkrankung zugelassen wurde.

2012
Das Jahr 2012 markierte einen weiteren Meilenstein in der Geschichte der Gentherapie.
Das erste gentherapeutische Arzneimittel wurde in Europa zugelassen. Es soll die seltene Erbkrankheit LPLD heilen. Bei der Lipoprotein-Lipase-Defizienz fehlt aufgrund einer Genmutation ein Enzym, das für den Abbau von Fettmolekülen sorgt. Das Fett reichert sich deshalb im Blut an und kann lebensgefährliche Komplikationen hervorrufen.

In Deutschland ist allerdings nur eine Patientin mit dem Arzneimittel behandelt worden. Ärztinnen und Ärzte an der Berliner Charité spritzten ihr das Gen für das fehlende Enzym in den Oberschenkel, damit die Zellen im Muskelgewebe den Stoff selber produzieren. Mittlerweile ist das Arzneimittel nicht mehr zugelassen, unter anderem weil es kommerziell nicht erfolgreich war. Allerdings war dies der Anstoß für viele weitere Zulassungen von gentherapeutischen Arzneimitteln in den folgenden Jahren.

Das Jahr 2012 brachte auch deshalb einen Aufschwung für die Gentherapie, weil die beiden Molekularbiologinnen Jennifer Doudna und Emmanuelle Charpentier die Genschere CRISPR-CAS entdeckten. Für die Biotechnologie war das eine Revolution. Die Genschere war verhältnismäßig einfach zu handhaben und die Kosten hielten sich in Grenzen. Für ihre Entdeckung erhielten die beiden Forscherinnen 2020 den Nobelpreis für Chemie. Seither hat sich die Gentherapie von Rückschlägen erholt. Es gibt immer mehr Zulassungen von Therapien, meist für seltene Erkrankungen.

Genscheren
An welche Stelle genau baut sich bei einer Gentherapie das Korrekturgen ins Erbgut ein? Das ergibt sich bisher eher zufällig. Mit Hilfe einer Genschere kann man den Ort für eine Reparatur oder Ausschaltung von Genen genau bestimmen. Die Forscherinnen und Forscher haben sich das Prinzip der Genschere von Bakterien abgeguckt: Deren Immunsystem ist so konzipiert, dass sie die Erbsubstanz von feindlichen Viren an einer definierten Stelle zerschneiden und gezielt zerstören können. Inwieweit das auch als „Genome Editing“ genannte Prinzip in der klinischen Gentherapie Fuß fasst, muss sich noch zeigen. Forscherinnen und Forscher arbeiten zum Beispiel an einer Therapie gegen das humane Immundefizienz-Virus (HIV). Ein Ansatz ist es, dass die „Genschere“ sich gegen das HI-Virus richtet und zwei Regionen aus dessen Genom entfernt, die für die virale Replikation, also die Vervielfältigung der Erbinformation, wichtig sind. Weil das Virus sich nur reproduzieren kann, wenn es intakt ist, sollte es den Replikationsprozess dann einstellen.
Auch könnte der Einsatz einer Genschere dazu beitragen, dass CAR-T-Zell-Therapien von fremden Spendern vertragen werden, indem die Genschere gezielt Gene in den Immunzellen ausschaltet.

Zugelassene Gentherapien - eine Übersicht
Seit der ersten europäischen Zulassung eines gentherapeutischen Arzneimittels im Jahr 2012 erlangen immer mehr Gentherapeutika die Zulassung durch die Europäische Arzneimittelagentur.
Und es werden immer mehr.

2015:
•  Imlygic® (Wirkstoff: Talimogen Laherparepvec) bei Melanom (schwarzer Hautkrebs)

2016:
•  Strimvelis® (Wirkstoff: Autologe CD34+-Zellen, die für ADA kodieren) gegen ADA-SCID  (schwerer kombinierter Immundefekt bei Kindern)

2018:
•  Luxturna® (Wirkstoff: Voretigen Neparvovec) gegen frühkindliche Erblindung durch die  Lebersche Kongenitale Amaurose bzw. Retinitis pigmentosa
•  Zwei CAR-T-Zell-Therapien (Kymriah®, Wirkstoff: Tisagen Lecleucel, und Yescarta®,  Wirkstoff: Axicabtagen Ciloleucel) gegen Formen von Blutkrebs  (Akute lymphatische Leukämie, B-Zell-Lymphom)

2019:
•  Zynteglo® (Wirkstoff: Betibeglogen Autotemcel) gegen Beta-Thalassämie  (Blutarmut) – zurückgezogen

2020:
•  Zolgensma® (Wirkstoff: Onasemnogen Abeparvovec) gegen spinale Muskelatrophie  (Muskelschwund)
•  Libmeldy® (Wirkstoff: Atidarsagen Autotemcel) gegen die seltene Stoffwechselerkrankung  metachromatische Leukodystrophie
•  CAR-T-Zell-Therapie Tecartus® (Brexucabtagen Autoleucel) gegen Mantelzell-Lymphom  (bösartige Erkrankung des lymphatischen Systems)

2021:
•  CAR-T-Zell-Therapie Abecma® (Idecabtagen Vicleucel) gegen Multiples Myelom  (bösartige Erkrankung des Knochenmarks)

2022:
•  Roctavian® (Wirkstoff: Valoctocogen Roxaparvovec) gegen Hämophilie A (Gerinnungsstörung)
•  Upstaza® (Wirkstoff: Eladocagen Exoparvovec) gegen Aromatische-L-Aminosäure- Decarboxylase-Mangel (seltene Stoffwechselerkrankung)
•  CAR-T-Zell-Therapie Carvykti® (Ciltacabtagen Autotemcel) gegen Multiples Myelom
•  CAR-T-Zell-Therapie Breyanzi® gegen bestimmte Lymphom-Formen  (Wirkstoff: Lisocabtagen Maraleucel CD4-Zell-/CD8-Zell-Komponente)

ATMP sind sehr teure Arzneimittel – mit sogenannten Pay-for-Performance-Modellen könnten sich neue Möglichkeiten für die Erstattung eröffnen. Und der Zugang von Patientinnen und Patienten zu der Therapie wird gesichert.

Fast drei Millionen Euro kostet das zurzeit teuerste Medikament der Welt – eine 2020 zugelassene Gentherapie gegen eine erbliche Stoffwechselkrankheit bei Kindern. Die Krankheit mit dem komplizierten Namen metachromatische Leukodystrophie führt bei den Kindern zu schweren Schäden an den Nervenzellen, die letztlich zum Tod führen. Bisher gab es keine Behandlung gegen diese Krankheit.

Keine Einigung bei Preisverhandlungen
Preise im Millionenbereich – das stellt die Sozialversicherungssysteme nicht nur in Deutschland vor Herausforderungen. Denn anders als bei chemisch-synthetischen Arzneimitteln müssen sie die Kosten für die ATMP-Therapie, die oft nur einmal verabreicht wird, auf einen Schlag zahlen. Bei anderen Medikamenten dagegen, die über viele Monate, Jahre oder sogar lebenslang eingenommen werden, verteilen sich die Kosten über einen längeren Zeitraum. Manchmal kommt es vor, dass sich die Krankenkassen und pharmazeutischen Unternehmen bei den Verhandlungen nicht auf einen Preis einigen können. Dann sehen sich Hersteller gezwungen, die Therapie zurückziehen. Ein Beispiel dafür ist die 2019 zugelassene Gentherapie gegen die Erbkrankheit Beta-Thalassämie (eine Erkrankung mit einer Störung der Bildung des roten Blutfarbstoffs). „Die Verhandlungen um den Erstattungspreis endeten vor der Schiedsstelle des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherung. Doch das Ergebnis wurde vom pharmazeutischen Unternehmen als wirtschaftlich nicht tragfähig beurteilt“, berichtet Dr. Wilken vom BPI. So steht das Produkt in Deutschland und Europa nicht mehr zur Verfügung.

Pharmazeutische Unternehmen müssen ihre Investitionen amortisieren: Sie haben im Schnitt zehn bis zwölf Jahre und 1,5 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung dieser Arzneimittel investiert. „ATMP sind komplexe Produkte, die individuell hergestellt werden“, betont Dr. Wilken.
Gleichzeitig ist der Bedarf an ATMP aufgrund sehr kleiner Patientengruppen gering. Um die aufwendige und kostenintensive Entwicklung von ATMP auskömmlich refinanzieren zu können, müssen pharmazeutische Unternehmen einen hohen Preis abrufen. Um Krankenkassen nicht mit sehr hohen Einmalzahlungen zu belasten, könnten alternative Erstattungswege über sogenannte Pay-for-Performance-Modelle helfen.

Erstattung nur bei Therapieerfolg
Pay-for-Performance: Das heißt, dass die Krankenkassen nur dann den Preis vollständig erstatten, wenn das gentherapeutische Arzneimittel auch auf längere Sicht ausreichend wirksam ist. Ein solches Erstattungsmodell kann man entweder so gestalten, dass die Krankenkassen einen bestimmten Betrag wieder rückerstattet bekommen, falls das Medikament nicht wie erwartet „performt“. Oder die Kassen zahlen von vornherein nur in Raten, wobei die noch ausstehenden Zahlungen bei unbefriedigendem Behandlungserfolg wegfallen. „Solche Modelle sind für beide Seiten interessant“, betont Dr. Wilken vom BPI. „Für die Krankenkassen, weil sich die Kosten auf mehrere Jahre verteilen und sie womöglich nicht alles zahlen müssen. Und für die pharmazeutischen Unternehmen, weil sie – allerdings abhängig vom Erfolg – höhere Erstattungsbeträge in Aussicht gestellt bekommen.“

Kann man bei den ATMP von Heilung sprechen (s. auch Interview)? Ob eine Heilung gelingt, hängt auch davon ab, wann die Therapie startet. Häufig ist der Effekt am intensivsten, wenn die Therapie gleich nach der Geburt beginnt.

Je früher, desto besser heißt es bei Säuglingen, die beispielsweise an einer spinalen Muskelatrophie (SMA) erkrankt sind. Die SMA ist eine seltene Erbkrankheit, bei der die Kinder aufgrund des defekten Gens SMN1 eine fortschreitende Muskelschwäche entwickeln, die in ihrer schwersten Form unbehandelt innerhalb der ersten zwei Lebensjahre zum Tod führt. Seit 2020 ist eine Gentherapie zugelassen, daneben gibt es noch zwei weitere Arzneimittel, die den Muskelschwund lindern können. „Bei Kindern mit SMA ist es das Ziel, die Therapie innerhalb des ersten Lebensmonats zu beginnen“, sagt Prof. Ulrike Schara-Schmidt, Leitende Ärztin der Abteilung für Neuropädiatrie, Klinik für Kinderheilkunde 1 am Universitätsklinikum Essen. „Die besten Ergebnisse erreichen wir, wenn die Kinder noch keine Symptome haben. Denn wenn die Motoneurone einmal verloren sind, lassen sie sich nicht wiederbeleben.“

Neugeborenen-Screening
Voraussetzung einer so frühen Therapie ist eine ganz frühe Diagnose, die nur mit Hilfe eines Neugeborenen-Screenings möglich ist. Ein Neugeborenen-Screening, das alle Babys auf schwere angeborene Erkrankungen hin untersucht, steht inzwischen für 19 Erkrankungen zur Verfügung, darunter auch die Spinale Muskelatrophie. Nach einer bestätigenden Diagnose wird den Eltern dringend empfohlen, sich an ein Gentherapie-Zentrum zu wenden, das auf diese Seltene Erkrankung spezialisiert ist. Nach Beratungsgesprächen, Untersuchungen, der Entscheidung für eine Gentherapie und Bewilligung der Krankenkasse wird bei dem Baby die Therapie durchgeführt, wenn kein Ausschlusskriterium vorliegt. Bei der Therapie handelt es sich um eine Infusion, die über eine Stunde läuft, die Eltern können dabei sein. Die Tage danach bleiben die kleinen Patienten zur Beobachtung im Krankenhaus, um mögliche Nebenwirkungen frühzeitig zu erkennen.

Gentherapie-Zentren
Etwa 15 bis 20 Gentherapie-Zentren gibt es in Deutschland, die viele Voraussetzungen erfüllen müssen, damit die Therapie mit einem ATMP möglichst erfolgreich verläuft. Die Anforderungen hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in einer neuen Rahmenrichtlinie zusammengefasst.
So müssen die Krankenhäuser über eine Routine in der Behandlung der Erkrankung verfügen, was sie zum Beispiel über personelle Ressourcen nachweisen. Sie müssen zudem eine bestimmte räumliche oder medizintechnische Ausstattung vorhalten. Betroffene Eltern können sich nach der Diagnosestellung psychologisch beraten lassen. Nur wenn alle Vorgaben erfüllt sind, können die Zentren eine Behandlung mit einem ATMP über die gesetzlichen Krankenkassen abrechnen.

Doch mit einer Infusion ist es nicht getan. Voraussetzung für einen möglichst guten Heilungserfolg ist: dass die Versorgungsstrukturen vorher, nachher und drum herum stimmen. „Die Infusion als Prozedur ist nicht das Problem. Eine Gentherapie ist eine sehr komplexe Behandlung“, sagt Prof. Schara- Schmidt. „Die Betreuung ist ganz engmaschig, geführt von Neuropädiatern, viel Netzwerk-Arbeit mit anderen Berufsgruppen wie etwa pädiatrischen Pneumologen, Gastroenterologen, Immunologen, Intensivmedizinern, Physiotherapeuten, Apothekerinnen ist nötig, und alles ist bis ins kleinste Detail in festen Protokollen vorgeschrieben.“ Dazu kommt die Dokumentationspflicht, um einen ATMP-Register mit allen relevanten Daten aufbauen zu können. Ein Jahr lang werden die behandelten Kinder im Zentrum weiterbetreut, auch um bei eventuell schweren Nebenwirkungen sofort reagieren zu können. „Wir sprechen von einem Programm, nicht von einem einzelnen Arzneimittel“, so die Neuropädiaterin. Und dieses ganze „Drumherum“ um das eigentliche Arzneimittel wird zurzeit in einer Versorgungsstudie mit dem Namen INTEGRATE-ATMP untersucht.

Das Projekt INTEGRATE-ATMP
INTEGRATE-ATMP prüft die Strukturen im konkreten Behandlungsalltag von Patientinnen und Patienten, die eine Gentherapie erhalten. Welche Strukturen sind nötig, damit die Patientinnen und Patienten mit der größtmöglichen Sicherheit behandelt werden können? Dafür haben sich neun Universitätsklinika unter der Federführung des Universitätsklinikums Heidelberg zusammengeschlossen – darunter auch das Universitätsklinikum Essen begleitet von einer Krankenkasse, einer Patientenvertretung/-organisation, Fachgesellschaften, Registerbetreibern und niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten. Neben der Gentherapie bei der spinalen Muskelatrophie werden weitere ATMP-Anwendungen ins Visier genommen: Die Gentherapie bei der seltenen Stoffwechselkrankheit metachromatische Leukodystrophie, die Gentherapie bei schwerem kombinierten Immundefekt SCID – eine Gruppe genetischer Erkrankungen, die durch vollständiges Fehlen der Immunabwehr charakterisiert sind – und CAR-T-Zell-Therapien.

Strukturierte Behandlungspläne, Aufbau eines krankheitsübergreifenden ATMP-Registers, Empowerment der Patientinnen und Patienten sowie die Erstattung durch die Krankenkassen sind die großen Themen. „Manchmal dauert es, bis die Krankenkassen ihre Zustimmung geben, trotz Zulassung sind es teilweise immer noch Einzelfallentscheidungen“, berichtet Prof. Schara-Schmidt.
Das riesige Projekt wird für vier Jahre mit insgesamt 13,6 Millionen Euro durch den Innovations-ausschuss des G-BA gefördert. „Es ist alles noch ganz neu, das sind ja keine Behandlungen, die wir vorher schon gemacht haben“, betont Prof. Schara-Schmidt. „Aber was wir wissen: Wenn wir früh therapieren, bestehen bestmögliche Entwicklungschancen.“

Deutschland war ganz vorn bei der Entwicklung der Gentherapie-Grundlagen – aber klinische Studien finden kaum noch in Deutschland statt. Die sogenannte „Translation“ von der Grundlagenforschung, also der Arbeit im Labor, zur klinischen Forschung mit Studien an Menschen gestaltet sich hierzulande schwierig. Gründe dafür gibt es viele, unter anderem hat Deutschland ein komplexes regulatorisches System.

Viele Jahre hatten pharmazeutische Unternehmen in Europa mit unterschiedlichen nationalen Zuständigkeiten bei der Klinischen Prüfungen zu tun. Der europäische Rechtsrahmen sah vor, dass jedes EU-Land über eigene gesetzliche Regelungen verfügte. Es gibt seitdem ein einheitliches europäisches Portal für klinische Studien.

Wenig Offenheit für Innovationen
Neben bürokratischen Hürden geht es auch um Mentalität: In Deutschland herrschen große Vorbehalte gegenüber der Gentherapie. „Auch aufgrund der Altersstruktur fehlt es an Offenheit für Innovationen“, sagt Dr. Wilken von BPI. „Je älter eine Gesellschaft, desto ängstlicher und vorsichtiger wird sie.“ So fehlt es auch an Wagnis-Kapital, das in neu gegründete Unternehmen investiert wird.
Einige Menschen befürchten, dass es sich bei Gentherapien um genetische Veränderungen handelt, die auf weitere Generationen übertragen werden könnten. Diese Sorge ist jedoch unbegründet, da Gentherapien ausschließlich die Körperzellen verändern, nicht jedoch die Keimzellen. Genetische Veränderungen bleiben daher nur beim jeweiligen Patienten und übertragen sich nicht auf Nachkommen.

Auch bei der ATMP-Produktion hinkt Deutschland hinterher. So fliegen Zellen zum Teil um die halbe Welt, um sie für eine CAR-T-Zell-Therapie zu präparieren. „T-Zellen werden in Deutschland einem Patienten entnommen und zum Teil in die USA geschickt für die Bearbeitung“, berichtet Dr. Serrano vom BPI. „Eine Produktion vor Ort wäre schneller, sicherer und deutlich kostensparender.“ Wenn eine ausgefeilte Infrastruktur und Logistik in Deutschland sichergestellt wäre, könnte das zudem auch dazu führen, dass das jeweilige Arzneimittel womöglich schneller zugelassen wird.

Expertinnen und Experten warnen, dass Deutschland den Anschluss und damit Know-how verlieren könnte. „Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung sollten wir hierzulande so früh wie möglich zur Anwendung bringen, sodass Ärztinnen und Ärzte und Pflegepersonal die frühen Phasen mitbekommen und Erkenntnisse sammeln“, sagt Dr. Serrano. Wie die Translationslücke geschlossen werden kann, zeigt die Gründung eines neuen Zentrums für Translation im Bereich der Gen- und Zelltherapien, bei dem sich große Player zusammenschließen: das Land Berlin, die Bayer AG und die Berliner Charité sind beteiligt, gefördert mit 44 Millionen Euro vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. „Der große Sprung nach vorn ist zwar noch nicht in Sicht, aber gute Ansätze sind erkennbar“, resümiert Dr. Serrano vom BPI.

Gene, Zellen, Gewebe – darauf basieren die Advanced Therapy Medicinal Products (ATMP). Wie sicher und wie wirksam sind diese neuartigen Therapien?
Bevor ATMP in Deutschland auf den Markt kommen, müssen sie ein zentralisiertes Zulassungsverfahren durchlaufen, koordiniert von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA). Speziell für die ATMP wurde bei der EMA im Jahr 2009 der Ausschuss für neuartige Therapien CAT geschaffen, um Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der ATMP wissenschaftlich zu bewerten. Wir haben mit der ehemaligen Ausschussvorsitzenden Dr. Martina Schüßler-Lenz gesprochen.

Wir stehen mit den ATMP am Beginn einer neuen Ära von Arzneimitteln. Inwiefern?
Dieser Begriff einer neuen Ära oder neuen Generation von Arzneimitteln bezieht sich hauptsächlich auf die Gentherapie – eine der drei Gruppen bei den ATMP. Gentherapeutische Arzneimittel machen bei den ATMP auch die Mehrzahl in den Studien und Zulassungen aus. Die Gentherapie kann die Überlebenszeit und die Lebensqualität zum Beispiel von Kindern, die an einer monogenetischen Erbkrankheit leiden, wesentlich beeinflussen. Sie würden sonst oft schon im Kleinkindalter sterben. Bei der Gentherapie wird eine funktionsfähige Kopie des defekten Gens in den Körper geschleust, so dass im Patienten eine neue Quelle für das bisher nicht vorhandene Protein oder Enzym bereitgestellt wird.
Diese Therapien setzen erstmals an den Ursachen der Erkrankung an.

Sind biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte oder somatische Zelltherapeutika weniger innovativ als die Gentherapie?
Wir bewerten derzeit in der Zulassung viele Gentherapien. Aber wenn man Zellen kultivieren und dem Menschen zurückgeben kann, um defektes Gewebe zu reparieren, dann kann das auch eine bahnbrechende Therapie sein. Denken Sie zum Beispiel an Menschen, die aufgrund schwerer Verbrennungen am Auge langsam zu erblinden drohen. Ein Arzneimittel aus Gewebe, das Stammzellen aus der Hornhaut enthält, kann dafür sorgen, dass sich das zerstörte Gewebe erneuert. Auch wenn mit Hilfe somatischer Zelltherapeutika – die dritte Gruppe bei den ATMP – chronische Fisteln oder Geschwüre endlich abheilen, ist das ein Sprung nach vorne.

Es klingt bestechend: Einmal eine Injektion mit dem intakten Gen oder eine Implantation von präparierten Zellen oder Gewebe – und der Mensch ist für sein ganzes Leben geheilt.
Kann man bei den ATMP wirklich von „Heilung“ sprechen?

Die kurze Antwort lautet: Wir können das noch nicht wissen. Dafür sind die Therapien zu neu.
Wir kennen ja noch keine Patientinnen und Patienten, die 60, 70 oder 80 Jahre alt geworden sind, um beurteilen zu können, ob sie die gleiche Lebenserwartung haben, wie ursprünglich gesunde Menschen. Wir brauchen Daten über Jahrzehnte, um zu wissen, ob die Kopie eines Gens lebenslang im Patienten wirkt oder nicht. Aber ja, mit der ursächlichen Gentherapie monogener Erbkrankheiten wird eine Heilung angestrebt.

Die Arzneimittel sind zugelassen, das heißt, es müssen doch Daten zur Wirksamkeit über mehrere Jahre vorliegen?
Wir sehen bei der Zulassung klinische Daten über einen Zeitraum, der vielleicht zwei, drei, vier Jahre umfasst. Auf dieser Basis können wir Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit des Arzneimittels schon beurteilen. Aber einen langjährigen Zeitraum überblicken wir meistens noch nicht. Deshalb ist gerade bei diesen neuartigen Therapien wichtig, ihre Wirkung im Patienten auch nach der Zulassung weiter zu beobachten. Diese Nachverfolgung ist auch in der ATMP-Verordnung von 2008 verankert. Wir als Arzneimittelbehörde verlangen von den Zulassungsinhabern, also von den pharmazeutischen Unternehmen, weitere Daten auch nach Zulassung, die an uns berichtet werden. So generieren wir neues Wissen über bereits zugelassene Substanzen, wir sind ein lernendes regulatorisches System.

Welche Rolle spielen die Viren – die „Gentaxis“ – für eine anhaltende Wirksamkeit?
Wir unterscheiden zwischen integrierenden und nicht integrierenden Vektoren, so nennen wir die Viren, die als Genfähren dienen. Es gibt dabei Vektoren, die sich in die DNA der Zellen integrieren, das sind die lentiviralen Vektoren. Die Adeno-assoziierten Virusvektoren dagegen tun das nicht. Da kann es passieren, dass es zu einer Art Verdünnungseffekt kommt, wenn sich die Zellen teilen. Es könnten dabei neue Zellen entstehen, die das therapeutische Gen nicht mehr haben. Eine Abnahme der Wirkung könnte darin begründet sein. Andererseits ist das Risiko für eine Krebsentstehung oder die Entwicklung einer Leukämie als Folge der Verwendung integrierender Vektoren womöglich größer – wobei das Risiko durch die Entwicklung neuer Vektoren insgesamt deutlich reduziert werden konnte.
Das gilt es, noch mehr zu erforschen.

Alle Gentherapien, die seit 2018 zugelassen sind, richten sich gegen Seltene Erkrankungen.
Wie sieht es denn bei den Seltenen Erkrankungen mit der Datenlage aus?

Wir haben bei den ATMP in der Tat meist die spezielle Situation, dass es sich bei den Anwendungsgebieten um Seltene Erkrankungen handelt, an denen nur sehr wenige Menschen in Deutschland und auf der Welt erkrankt sind. Das heißt: Es gibt nur sehr wenige Patientinnen und Patienten und oft gar keine Vergleichstherapie, so dass klassische randomisiert-kontrollierte Studien gar nicht machbar sind.
Auch wenn wir trotz begrenzter Daten zu einer Nutzen-Risiko-Bewertung kommen, bleiben oft noch viele Unsicherheiten, und wir brauchen mehr Erkenntnisse. Deshalb gibt es bei den ATMP in der Regel auch mehr Auflagen. So müssen die pharmazeutischen Unternehmen nach der Zulassung eben zum Beispiel Daten aus dem Versorgungsalltag liefern.

Es geht ja nicht nur um die Wirksamkeit der Therapien, sondern vor allem auch um die Sicherheit der Patientinnen und Patienten.
Auch und vor allem deshalb hat die Nachbeobachtung einen besonderen Stellenwert bei den ATMP.
So sammeln wir zurzeit alle Nach-Zulassungs-Daten zur CAR-T-Zell-Therapie. Weltweit wurden bereits mehr als 15.000 Patientinnen und Patienten behandelt, so dass wir anhand dieser Datenmenge das Risiko für spät auftretende Nebenwirkungen jetzt noch einmal erneut wissenschaftlich überprüfen können. Es gilt zu analysieren, ob die von uns derzeit geforderte Nachbeobachtung der Patienten über 15 Jahre noch gerechtfertigt ist, oder ob wir für bestimmte Patientengruppen eine kürzere Nachbeobachtungszeit wissenschaftlich rechtfertigen können. Das liegt mir als Vorsitzende des Ausschusses für neuartige Therapien sehr am Herzen: dass wir wissensbasierte und angemessene regulatorische Entscheidungen treffen und diese immer wieder überprüfen.

Wie sehen Sie die Zukunft der ATMP?
Die Anwendungen dieser Arzneimittel werden sich auf andere Therapiegebiete ausdehnen. Bei der Arthrose zum Beispiel sind erste Ansätze zu verzeichnen, dass mit Hilfe der Gen- oder Zelltherapie die Degeneration der Gelenke nicht weiter fortschreitet. Viele Studien untersuchen, ob die CAR-T-Zell-Therapie, die bisher nur bei Tumoren des Blutes und des Lymphsystems angewendet wird, auch bei Autoimmunerkrankungen und soliden Tumoren greifen kann, etwa beim schwer behandelbaren Hodenkrebs. Was die Genschere betrifft: Wir erwarten in diesem Jahr erste Einreichungen zur Zulassung. Es wird auch viel daran geforscht, ob man mit einer CAR-T-Zell-Therapie oder einer Genschere Aids bekämpfen kann. Zelltherapien auf der Basis von Zellen anderer Menschen werden zum Einsatz kommen, die dann nicht nur wie bisher auf den jeweiligen Patienten abgestimmt sind. Die Zukunft der ATMP sieht sehr positiv aus, es wird immer mehr von diesen neuartigen Therapien geben.

Dr. Martina Schüßler-Lenz arbeitet am PEI, das in Deutschland für die Zulassung von ATMP zuständig ist. Als ehemalige Vorsitzende des CAT-Ausschusses teilt sie im Interview ihre Erfahrungen.

... über 1.200 ATMP in klinischer Erprobung sind? Allerdings wird nur ein Bruchteil tatsächlich den Markt erreichen. (Quelle: BPI)

... in Deutschland das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) als Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel somit auch für ATMP zuständig ist? Für alle anderen Arzneimittel ist es das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. (BfArM)

... allein im Jahr 2022 vier Gentherapien die EU-Zulassung erhalten haben? (Quelle: Paul-Ehrlich-Institut, Stand: 20. Dezember 2022)

... pharmazeutischen Unternehmen im Schnitt zehn bis zwölf Jahre und 1,5 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung neuer Wirkstoffe investieren? (Quelle: BPI)

... die Gentherapie bisher meistens gegen Seltene Erkrankungen eingesetzt wird? Der Begriff „Seltene Erkrankung“ ist in der EU genau definiert: Nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen sind von dem jeweiligen Leiden betroffen. (Quelle: BPI-Themendienst zu Seltenen Erkrankungen)

... ATMP-Produkte in der Entwicklung sind, die für eine größere Patientengruppe hergestellt werden? Dafür werden dann nicht wie bisher patienteneigene Zellen oder Gewebe verwendet (autologer Einsatz), sondern die eines anderen Menschen.   (allogener Einsatz)

... in Deutschland neu zugelassene Arzneimittel am schnellsten verfügbar sind, nämlich durchschnittlich bereits 133 Tage nach der Zulassung? (Quelle: EFPIA Patients W.A.I.T. Indicator 2021 Survey)

Informationen vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie

BPI-Themenwelt ATMP

Positionspapier „Ergebnisorientierte Vergütungsmodelle ermöglichen – Anpassungen am Risikopool des Morbi-RSA erforderlich“

Themendienst „Seltene Erkrankungen“

 

Informationen vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI)

Übersicht ATMP

Martina Schüßler-Lenz, Jürgen Scherer, Jan Müller-Berghaus: Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMP): Ankunft in der Versorgung. In: Pharmakon, 10. Jg., 5/2022.

 

Einzelne Gentherapien

Gute Beschreibungen der einzelnen Gentherapien sind auf den Seiten der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA), des Gemeinsamen Bundesausschusses, der Pharmazeutischen Zeitung sowie Wissensschau zu finden.

Dr. Volker Henn: „Alofisel - Stammzelltherapie bei Morbus Crohn“, wissensschau.de

Dr. Volker Henn: „Glybera – die erste Gentherapie fand nur eine Patientin“, wissensschau.de, 13.12.2021

Dr. Volker Henn: „Luxturna – Gentherapie gegen frühkindliche Erblindung“, wissensschau.de, 27.05.2021

Dr. Volker Henn: „Roctavian: Gentherapie gegen Hämophilie A“, wissensschau.de, 04.01.2023

Dr. Volker Henn: „Strimvelis – Gentherapie hilft bei tödlicher Immunschwäche“, wissensschau.de, 06.04.2022

Dr. Volker Henn: „Upstaza lindert die Folgen eines AADC-Mangels“, wissensschau.de, 14.07.2022

Dr. Volker Henn: „Wissensschau: Holoclar – Stammzelltherapie erneuert die Hornhaut der Augen“, wissensschau.de

Dr. Volker Henn: „Zynteglo – Gentherapie gegen ß-Thalassämie“, wissensschau.de, 19.08.2022

EMA: Alofisel – Zusammenfassung des Europäischen Öffentlichen Beurteilungsberichts (EPAR)

EMA: Imlygic – Zusammenfassung des Europäischen Öffentlichen Beurteilungsberichts (EPAR)

EMA: Spherox (Sphäroide aus humanen autologen Matrix-assoziierten Chondrozyten) Übersicht über Spherox und warum es in der EU zugelassen ist

EMA: Übersicht über Carvykti und warum es in der EU zugelassen ist

„Libmeldy – Gentherapie für Kinder mit seltener Erbkrankheit“, Pharmazeutische Zeitung, 30.06.2021

Pressemitteilung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA): „Arzneimittel gegen seltene Krankheiten: Gentherapie Libmeldy® zeigt Zusatznutzen – Zelltherapie Zolgensma® dagegen nicht“, 04.11.2021


Geschichte der Gentherapie

„Der lange Weg der Gentherapie zum Patienten“, Interview mit Prof. Dr. Boris Fehse, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gentherapie, in: Frankfurter Allgemeine, 25.02.2020.

„Die Geschichte der Gentherapie“, in der Sendung Quarks, WDR, 20.10.2022.

Juliette Irmer: „Zwischen Wunsch und Wirklichkeit“, Spektrum.de, 26.02.2018.

Sascha Karberg: „Carls rettende Zellen für Emily. Der lange Weg einer neuen Krebstherapie“, Tagessspiegel, 16.09.2019.

Michael Lange: „25 Jahre nach der ersten Gentherapie“, Deutschlandfunk Kultur, 14.09.2015.

Gerald Traufetter: „Eingriff ins Erbgut“, Spiegel, 30.06.2009.
 

Weiteres

„Gen- und Zelltherapien: Von der Forschung zu den Patient:innen“, Pharma-Fakten, 11.05.2022.

Informationsdienst Wissenschaft, Pressemitteilung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK: „Arzneimittel-Kompass 2021: Umsätze für hochpreisige Arzneimittel erreichen neuen Höchststand“, 27.10.2021.

Informationsdienst Wissenschaft, Pressemitteilung der Universität Essen: „INTEGRATE-ATMP: Neuartige Therapien leichter zugänglich machen“, 26.04.2022.

Information des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA): „INTEGRATE-ATMP – Integrierte Versorgung Neuer Therapien durch Telemedizin, Empowerment, Gentherapeutika, Registeretablierung, Arzneimittelsicherheit, Therapiepfaden und Erstattung“

Pressemitteilung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA): „Gen- und Zelltherapien: Gemeinsamer Bundesausschuss bündelt qualitätssichernde Anforderungen in neuer Richtlinie“, 04.11.2021.

Dr. Volker Henn: „Genfähren: Viren ermöglichen die Gentherapie“, wissensschau.de, 27.05.2022.

Dr. Volker Henn: „CAR-T-Zellen bekämpfen den Krebs“, wissensschau.de, 03.02.2022.

Dr. Volker Henn: „Genscheren gegen Aids und Blutkrebs“, wissensschau.de, 30.09.2022.

Thomas Opladen et al.: „Die intrazerebrale Gentherapie des Aromatischen-L-Aminosäure-Decarboxylase-Mangels mit Eladocagene exuparvovec“. In: Monatsschrift Kinderheilkunde, 8/2021.