Umwelt

Spurenstoffen auf der Spur – Arzneistoffe in der Umwelt

Es ist ein unerwünschter Nebeneffekt: Arzneistoffe und deren Stoffwechselprodukte gelangen in die Umwelt, weil sie im Körper nicht vollständig abgebaut werden.

Spuren von Arzneistoffen werden hauptsächlich in Flüssen, Bächen und Seen gefunden – neben Spurenstoffen von anderen Chemikalien wie Bioziden, Körperpflegeprodukten, Waschmitteln und mehr. Arzneimittel spielen allerdings eine Sonderrolle: „Wir brauchen Arzneimittel für unsere Gesundheit, wir können sie in der Regel nicht einfach verbieten, weglassen oder austauschen“, betont Dr. Thomas Kullick vom Verband der Chemischen Industrie e.V. (VCI). Doch auf der anderen Seite können Rückstände von Arzneistoffen in Gewässern möglicherweise der Umwelt schaden. Wie gefährlich sind solche Spuren von Medikamentenwirkstoffen für Mensch, Tier und Pflanze? Und was können Pharmaunternehmen, Verbraucher, Ärzte, Wasserwirtschaft und Politik tun? Die sogenannte Spurenstoffstrategie des Bundes (siehe Policy Paper und Ergebnispapier des BMU) macht klar: Die Reinhaltung der Gewässer geht alle Beteiligten an und ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

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Die Wirkstoffe von Arzneimitteln sind gezielt mit hoher Stabilität entwickelt worden, um eine gute Wirkung im menschlichen Organismus sicherzustellen. Doch was Vorteile für die Wirksamkeit hat, kann Nachteile für die Umwelt bringen: „Viele Stoffe werden vom menschlichen Körper teils unverändert, teils umgewandelt wieder ausgeschieden“, berichtet Dr. Claudia Thierbach, Fachgebietsleiterin Arzneimittel, Wasch- und Reinigungsmittel beim Umweltbundesamt in Dessau (s. Interview). Wie viel ausgeschieden wird und wie viel im Körper bleibt, unterscheidet sich von Stoff zu Stoff. Insgesamt gelangen 80 bis 95 Prozent der Arzneimittel über diesen Weg, also über die Toilette, in unsere Gewässer. Die Arzneimittelrückstände werden in den Kläranlagen zwar zum großen Teil entfernt – doch die Technik kann nicht alle Spurenstoffe zurückhalten. Was nicht weggefiltert werden kann, wird in die Flüsse und Seen gespült.

Das Grundwasser ist weniger belastet als die Oberflächengewässer, also die Bäche und Seen. Rückstände von Chemikalien erreichen das Grundwasser, wenn Wasser durch den Boden sickert oder wenn die Kanalisation stellenweise undicht sein sollte. Vereinzelt und in äußerst geringen Mengen werden auch Spuren von Arzneistoffen, so genannte Spurenstoffe, im Trinkwasser gefunden. Es handelt sich allerdings um Größenordnungen von wenigen Milliardstel Gramm pro Liter.

Nicht in Spüle oder Toilette!

Arzneimittel gelangen zu 98 Prozent durch menschliche Ausscheidungen im Privathaushalt oder Krankenhaus und durch falsche Entsorgung ins Abwasser und damit in die Gewässer. Befragungen des Instituts für sozial-ökologische Forschung (ISOE) ergaben: 16 Prozent der Befragten entsorgen zumindest gelegentlich Tabletten, die sie nicht mehr verwenden, über die Toilette. Bei flüssigen Arzneimitteln scheint sich das Problem zu verschärfen: Bis knapp die Hälfte der Verbraucherinnen und Verbraucher kippen den Sirup, die Lösung oder Tinktur in das Waschbecken, in die Spüle oder ins WC. Vermutlich in dem guten Glauben, alles richtig zu machen, weil der Behälter aus Glas dann getrennt entsorgt werden kann. Doch bei Medikamenten ist Mülltrennung nicht angesagt: „Tabletten oder Saft gehören nicht in Ausguss oder Toilette, weil sie über diesen Weg unsere Gewässer erreichen können“, so Thierbach.

Herstellung ist nicht das Problem

Nur ein kleiner Teil, nämlich etwa zwei Prozent der Arzneistoffspuren in der Umwelt, gehen auf die Herstellung der Medikamente zurück. Größere Pharmafirmen haben ihre eigenen Kläranlagen. „Diese Anlagen sind in der Regel leistungsstärker als die kommunalen Kläranlagen“, erläutert Dr. Thomas Kullick vom Verband der Chemischen Industrie e.V. (VCI) „Kleinere Firmen leiten in das kommunale Abwassersystem ein, haben aber teilweise getrennte Entsorgungssysteme, bei denen problematische Stoffe abgefangen und gesondert entsorgt werden.“ Hauptproblem sind also nicht mehr die industriellen Einleitungen wie noch in den 70er Jahren, betont Kullick, sondern die menschlichen Ausscheidungen.

In Deutschland sind etwa 2.300 verschiedene Wirkstoffe für den Menschen zugelassen, gut die Hälfte wird als umweltrelevant eingestuft, sich also auf die Umwelt auswirkend, wenn sie dort hin gelangen. Von diesen rund 1.200 Wirkstoffen wurden im Jahr 2012 insgesamt rund 8.100 Tonnen verbraucht – ein Anstieg seit 2002 um mehr als 20 Prozent. „Die Zahlen werden weiter steigen, weil die Gesellschaft immer älter wird und mit dem Alter der Bedarf an Arzneimitteln wächst“, sagt Dr. Thomas Kullick vom VCI. Eine Studie des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) prognostiziert eine Steigerung des Gesamtverbrauchs an Arzneimitteln bis zum Jahr 2045 von mindestens 43 Prozent bis hin zu fast 70 Prozent.

Der erste Arzneimittelwirkstoff in deutschen Gewässern wurde Anfang der 1990er Jahre eher zufällig gefunden. Auf der Suche nach Rückständen von Pflanzenschutzmitteln stießen die Untersucher im Berliner Grundwasser auf Clofibrinsäure, ein Abbauprodukt des Fettsenkers Clofibrat. Inzwischen sind Spuren von mehr als 150 Arzneistoffen flächendeckend in Fließgewässern, manchmal im Grundwasser und vereinzelt sogar im Trinkwasser gefunden worden. Es handelt sich dabei um Arzneistoffe, die häufig eingenommen werden, wie zum Beispiel Betablocker, Schmerzmittel, Antibiotika, Hormone, Medikamente gegen Depressionen oder auch Röntgenkontrastmittel. Dank verfeinerter Analysemethoden kann man heute auch Wirkstoffe in sehr geringen Konzentrationen nachweisen, zum Beispiel von bis zu wenigen Milliardstel bis zu einigen Millionstel Gramm pro Liter. Das wäre ein Zuckerwürfel in einem Schwimmbadbecken.

Spurenstoffe von Arzneimitteln werden bisher noch nicht systematisch erfasst. Auch gibt es noch keine offiziellen Schwellenwerte, jedoch auf europäischer und nationaler Ebene Vorschläge für Umweltqualitätsnormen. In Deutschland werden an den Messstellen der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Wasser (LAWA) Überschreitungen dieser (nicht offiziellen) Werte häufig bei den Schmerzmitteln Diclofenac und Ibuprofen festgestellt, berichtet das Umweltbundesamt. Vereinzelte Überschreitungen gab es bei dem Antiepileptikum Carbamazepin, dem Antibiotikum Clarithromycin sowie bei einem natürlichen und einem synthetischen Hormon. Bei dem natürlichen Hormon handelt es sich um das weibliche Geschlechtshormon Östrogen. Von dem Antibiotikum Sulfamethoxazol werden vor allem am Ablauf kommunaler Kläranlagen höhere Konzentrationen gemessen, die an die vorgeschlagene Schwelle herankommen.

Diese Stoffe finden sich zum größten Teil auf der sogenannten Watch List der EU-Kommission wieder. Auf dieser Beobachtungsliste stehen Arzneistoffe, die umweltrelevant zu sein scheinen und von denen deshalb alle EU-Länder Daten sammeln sollen. Auf dieser Liste befindet sich das Schmerzmittel Diclofenac, drei Östrogen-Mittel sowie drei Antibiotika (alle drei sind sogenannte Makrolide). „Zurzeit läuft die wissenschaftliche Auswertung“, berichtet Dr. Thomas Kullick. „Lassen sich Überschreitungen feststellen, werden die entsprechenden Arzneistoffe eventuell als sogenannte prioritäre Stoffe in die Oberflächengewässerverordnung aufgenommen.“ Damit würden die Umweltqualitätsnormen rechtsverbindlich werden.

Für die meisten Arzneistoffe fehlen wissenschaftlich aussagekräftige Daten und Langzeituntersuchungen, um das Risiko für die Umwelt einschätzen zu können. Doch es scheint Gefahren zumindest für Tiere zu geben, darauf hat ein Ereignis in den 90er Jahren aufmerksam gemacht: In Indien fraßen Geier verendete Rinder, die mit dem Schmerzmittel Diclofenac behandelt worden sind. Die Geier starben daraufhin an Nierenversagen – mit der Folge, dass diese Vögel in Indien und Pakistan vom Aussterben bedroht sind.

Lebewesen im Wasser sind gefährdet

In Europa sind inzwischen Gefahren für Wasserlebewesen nachgewiesen. Das Umweltbundesamt führt folgende Effekte auf: So trägt die Regenbogenforelle Schädigungen innerer Organe durch Spuren von Diclofenac davon. Schon geringe Konzentrationen des Antidepressivums Oxazepam scheint das Verhalten von Fischen zu beeinflussen: Der Zackenbarsch legt ein verändertes Fressverhalten und gesteigerte Aktivität an den Tag. Durch Rückstände des Antidepressivums Fluoxetin wird die Kaulquappenentwicklung beim Leopardfrosch gestört. Spuren des Betablockers Propanolol hemmen das Wachstum beim japanischen Reisfisch und stören die Vermehrung beim mexikanischen Flusskrebs. Einige negative Auswirkungen auf Wassertiere sind allerdings Ergebnisse von Laborversuchen und (noch) nicht in der Umwelt beobachtet worden.

Vor allem Antibiotika und Hormone gelten als umweltrelevant. Antibiotika werden zum einen häufig verschrieben, rund 630 Tonnen wurden im Jahr 2012 in Deutschland in der Humanmedizin verbraucht, zum anderen sind sie schwer abbaubar. Hier zeigt sich einmal mehr: Was für die gesundheitliche Wirkung beim Menschen wichtig ist – nämlich eine hohe Stabilität – kann aus Umweltsicht problematisch sein. Antibiotika wurden häufig in Oberflächen- und Grundwasser gefunden und auch in Fischproben nachgewiesen. Der Befund einer Laborstudie: Rückstände der Antibiotika Enrofloxacin und Ciprofloxacin können das Wachstum von Grünalgen, Wasserlinsen und Cyanobakterien hemmen. Zudem besteht die Vermutung, so das Umweltbundesamt, dass bei hohen Antibiotika-Rückständen, wie sie in Gülle und Klärschlamm auftreten können, Antibiotika-Resistenzen in Mikroorganismen gefördert werden können.

Auch von Hormonen scheinen Gefahren auszugehen, möglicherweise schon in extrem niedrigen Konzentrationen. So reagieren beispielsweise Fische und Schnecken auf geringste Konzentrationen eines chemisch hergestellten Östrogens – ein weibliches Geschlechtshormon – „mit drastischen Veränderungen an ihrem Fortpflanzungssystem wie der Verweiblichung männlicher Tiere“. So zeigten sich zum Beispiel bei männlichen Karpfen weibliche Merkmale. Die Folge ist, „dass sich die Tiere nicht mehr fortpflanzen können und die Population geschwächt wird“, schreibt das Umweltbundesamt in einer Hintergrundbroschüre von 2014.

Trinkwasser: Keine Gefahren für den Menschen

Spuren von einigen wenigen Arzneimitteln finden sich auch im Trinkwasser, darunter Schmerzmittel, Fettsenker oder Röntgenkontrastmittel. „Die Konzentration liegt weit unterhalb der therapeutischen Dosis“, betont Dr. Claudia Thierbach vom Umweltbundesamt (s. Interview). Die nachgewiesenen Mengen sind laut Umweltbundesamt hundert bis eine Million Mal niedriger als die verschriebene Tagesdosis. Ein Erwachsener müsste eine Milliarde Liter Rheinwasser trinken, um die Wirkung einer Aspirin-Tablette zu erreichen, rechnet der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) e.V. auf seinen Internetseiten vor. Ähnliche Rechnungen kann man für andere Wirkstoffe aufmachen
(s. Wussten Sie schon...). Fazit der Umweltschützer vom Umweltbundesamt: „Trinkwasserhygienisch sind diese Arzneimittelspuren zwar unerwünscht, für den Menschen besteht dadurch nach heutigem Stand der Wissenschaft aber keine akute Gesundheitsgefahr.“ Auch die Weltgesundheitsorganisation kam 2012 zu dem Schluss, dass Gesundheitsschäden durch Arzneimittelrückstände im Trinkwasser höchst unwahrscheinlich sind.

Die Prüfung der Umweltwirkungen von Human- und Tierarzneimitteln ist seit 1998 gesetzlich vorgeschrieben und ist Bestandteil des Zulassungsverfahrens. Eine Zulassung muss erfolgen, wenn Arzneimittel neu auf den Markt kommen. Hierzu reichen die Pharmafirmen eine Umweltbewertung des eingesetzten Arzneimittelwirkstoffes ein.

Diese Prüfung der Umweltbewertung erfolgt durch das Umweltbundesamt. Seit 2006 gibt es für Humanarzneimittel den Leitfaden der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) zum sogenannten Environmental Risk Assessment, welcher einen risikobasierten Ansatz bei der Umweltbewertung von Arzneimitteln vorsieht.Die Pharmafirmen müssen für jedes Präparat eine Umweltbewertung vorlegen, die eine Umweltverträglichkeit nachweisen kann – zum Beispiel mit Fischen oder Wasserflöhen sowie auch Bodenstudien. „Diese Studien sind umfangreich und teuer, was in der Vergangenheit schon für einige Pharmaunternehmen bedeutet hat, dass sie ihr Zulassungsprojekt einstellen mussten“, berichtet Britta Ginnow, Geschäftsfeldleiterin Arzneimittelzulassung beim Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V.. Sobald ein Medikament auf eine neue Indikation ausgeweitet wird oder die Darreichungsform sich ändert und hiermit eine Änderung des Eintrags des Arzneimittelwirkstoffes in die Umwelt einhergehen kann, muss die Umweltbewertung erneut erfolgen.

Auflagen für Humanarzneimittel

Ist die Umweltbewertung unzureichend, können den Firmen Auflagen erteilt werden und Studien nachgefordert werden. So muss das Unternehmen etwa in der Gebrauchs- und Fachinformation über die Handhabung und Entsorgung des Arzneimittels gezielt aufklären. Allerdings kann die Erteilung der Zulassung bei Humanarzneimitteln – anders als bei Tierarzneimitteln – nicht aufgrund der Umweltbelange versagt werden. Forderungen, die Umweltverträglichkeit als echtes Zulassungskriterium einzuführen, hält die Juristin Prof. Dr. Liv Jaeckel von der Technischen Universität Bergakademie Freiberg entgegen: „Vor allem wenn es um ernste, lebensbedrohende oder die Lebensqualität stark beeinträchtigende Erkrankungen geht, wäre die Nichtzulassung eines wirksamen Medikaments angesichts der hohen Bedeutung der Schutzgüter Leben und Gesundheit schwierig zu rechtfertigen (...)“.

In ihrem Aufsatz (s. Literatur) macht Jaeckel deutlich, dass die Grundrechte der Patienten auf körperliche Unversehrtheit mehr wiegen als die möglichen Schäden für die Umwelt – zumal „eine negative Wirkung von in der Umwelt vorhandenen Arzneistoffen auf die menschliche Gesundheit nach derzeitigem Wissensstand ausgeschlossen ist“. Ende 2011 wurde ein Antrag zur Aufnahme von Umweltkriterien in die Nutzen-Risiko-Prüfung mit großer Mehrheit im Europäischen Parlament abgelehnt.

Umweltbewertung bei Altarzneien

Weiteres Problem bei der Zulassung sind die Altarzneimittel, also die Medikamente, die vor 2006 neu auf den Markt gekommen sind und dementsprechend nicht nach der EMA-Leitlinie auf Umweltverträglichkeit geprüft wurden. Viele Arzneimittel-Spurenstoffe, die in den Gewässern gefunden werden, stammen von diesen älteren Medikamenten. Dem will das europäische Forschungsprojekt iPiE („Intelligent Assessment of Pharmaceuticals in the Environment“) abhelfen, neben neun Universitäten und Forschungseinrichtungen sind auch 13 Pharmaunternehmen daran beteiligt. Im Rahmen des iPiE-Projekts entwickeln Wissenschaftler Modelle, die es ermöglichen, Stoffe zu bewerten, für die bislang keine Umweltbewertung vorliegt. Die Ergebnisse können Behörden, Wissenschaftler und auch interessierte Laien online in einer Datenbank (https://ipiesum.eu/) nachlesen.

Pharmazeutische Unternehmen kooperieren schon seit Jahren mit kommunalen Partnern, um die richtige Entsorgung unverbrauchter Arzneimittel zu fördern. Im Jahr 2016 wurde zudem die sogenannte Spurenstoffstrategie des Bundes initiiert: Im Dialog sollen alle Akteure eine gemeinsame Strategie auf Bundesebene erarbeiten.

„Das Ziel ist es, den Eintrag von Spurenstoffen in die Gewässer zu vermeiden beziehungsweise zu mindern“, berichtet Britta Ginnow vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V., die sich gemeinsam mit ihrem Kollegen Dr. Jens Peters für den BPI in diesem Prozess engagiert. „Die Spurenstoffe stammen dabei von Arzneimitteln, aber auch von Bioziden, Pflanzenschutzmitteln, Industriechemikalien oder Körperpflege- und Waschmitteln.“ An dem Dialog beteiligt sind nebem dem Bundesministerium für Umwelt und dem Umweltbundesamt unter anderem die Pharmaindustrie, andere Zweige der chemischen Industrie und der Agrarwirtschaft, die Deutsche Krankenhausgesellschaft, der Deutsche Städte- und Gemeindebund sowie die Wasserwirtschaft. Begleitet und moderiert wird der Aushandlungsprozess vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung sowie von der Dortmunder Kommunikationsagentur „IKU-die Dialoggestalter“.

Es wurden in einer ersten Phase Handlungsempfehlungen erarbeitet. So richtet sich ein Teil der Empfehlungen an die Hersteller: Pharmaindustrie und andere Industrien werden dazu angehalten, Umwelteigenschaften transparent zu kommunizieren, Umweltbewertungen zu aktualisieren und Wissenslücken zu schließen. Weitere Empfehlungen betreffen die Anwendung der Produkte: Das Fachpersonal (also Ärzte, Apotheker, Gesundheitspersonal u.a.) sowie die Verbraucher sollen für einen bewussten Umgang mit Arzneimitteln sowie eine sachgerechte Entsorgung sensibilisiert werden. Ein weiteres Paket an Empfehlungen adressiert die Wasserwirtschaft: Es geht vor allem um eine weitergehende Behandlung des Abwassers in den Kläranlagen. Inzwischen hat die zweite Phase des Dialogs begonnen, in der die Handlungsempfehlungen konkrete Formen annehmen sollen. „Die pharmazeutische Industrie trägt ihre Verantwortung und setzt sich für den Schutz der Umwelt ein. Doch erste Priorität hat die Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten“, stellt Britta Ginnow vom BPI klar. „Die ärztliche Therapiefreiheit darf nicht beschnitten und die Compliance des Patienten nicht beeinträchtigt werden.“

Wirksamkeit und Umweltverträglichkeit ist möglicherweise kein unüberwindbarer Gegensatz. Die pharmazeutische Industrie und Mitgliedsunternehmen des BPI versuchen Arzneimittel zu entwickeln, die umweltverträglicher sind.

Neue Anwendungsformen

Zum einen arbeiten pharmazeutische Unternehmen daran, die Verteilung des Wirkstoffs im Körper zielgerichtet zu optimieren, so dass weniger Wirkstoff ausgeschieden wird. Dabei geht es um Darreichungsformen wie etwa Retardkapseln oder Pflaster. Bei den Retardformen wird der Wirkstoff langsamer, also über den ganzen Tag verteilt abgegeben, so dass dieser nach und nach am Wirkort im Körper ankommt und weniger davon im Urin oder Stuhl ausgeschieden wird. Auch ein Wechsel von Salbe zu Pflaster kann Vorteile bringen, wie etwa bei dem Schmerzmittel Diclofenac. Das Schmerzpflaster kann im Hausmüll entsorgt werden, während bei einer Salbe Wirkstoff abgeduscht wird oder in der Kleidung hängen bleibt und so in die Gewässer gelangt. Zudem ist bei einem Pflaster der Wirkstoff vordosiert, während bei einer Salbe häufig zu viel auf die schmerzende Stelle aufgetragen wird.

Best Practice

Das Unternehmen Desitin in Hamburg hat sich darauf spezialisiert, bekannte Wirkstoffe in ihrer Anwendung zu optimieren. „Wir entwickeln alte Wirkstoffe weiter, so dass sie zum Beispiel besser zu schlucken oder genauer zu dosieren sind“, berichtet Dr. Ulrich Hornung, Direktor Markt und Vertrieb bei Desitin. Die Pharmafirma produziert Arzneimittel für neurologische und psychiatrische Erkrankungen mit den Schwerpunkten Epilepsie und Parkinson-Syndrom. „Dabei profitiert in erster Linie der Patient, in zweiter Linie aber auch die Umwelt, weil durch die neuen Anwendungsformen weniger von dem jeweiligen Wirkstoff ausgeschieden wird.“

Neben Retardformen und viermal teilbaren Tabletten nutzt das Unternehmen die Möglichkeiten der Digitalisierung für die Weiterentwicklung ihres Wirkstoffs. Sogenannte Minitabletten, die von dem Wirkstoff nur wenige Milligramm statt mehrerer hundert enthalten, kombiniert mit einem Dosier-Gerät. Eine schwedische Partnerfirma hat dieses Gerät entwickelt, das in etwa so groß ist wie ein größeres Smartphone und eine Nachfüllkassette für die Minitabletten enthält. „Der Arzt programmiert das Gerät mit einem Dosisschema, das ganz individuell auf den jeweiligen Patienten abgestimmt ist“, berichtet Dr. Thomas Uhlmann, Direktor Fertigung bei Desitin. Das Gerät kann vom Arzt gemessene Wirkspiegel und vom Patienten angegebene Symptome aufzeichnen und auswerten, alle Informationen sind sowohl für Patient als auch Arzt zugänglich. Großer Vorteil dieser Anwendung:

„Der Wirkstoff kann sehr fein dosiert werden, so dass sich die Patienten wesentlich besser fühlen“, so Uhlmann. Positiver Nebeneffekt für die Umwelt: „Es wird oft weniger Wirkstoff verabreicht als mit den großen Tabletten, und die Patienten schätzen das Medikament, so dass sie weniger Tabletten wegwerfen.“

Biopharmazeutika

Neben neuen Anwendungsformen zum einen ist es zum anderen ein Ziel, neue Medikamente zu entwickeln, die besser abbaubar sind oder gezielter am Wirkort wirken, so dass weniger von dem Mittel gebraucht wird. Beide Vorteile vereinen monoklonale Antikörper: Sie bestehen aus Proteinen, also Eiweißstoffen, die gut abgebaut werden können. Zudem binden sie nur an ein ganz bestimmtes Molekül, beispielsweise an ein Oberflächenprotein eines Virus oder einer Krebszelle, und machen es bzw. sie damit unschädlich. Eine treffsichere Behandlung bei schweren Erkrankungen wie Krebs, Morbus Crohn oder rheumatoider Arthritis wird möglich, bei der weniger Wirkstoff nötig ist.

Monoklonale Antikörper gehören zu den sogenannten Biopharmazeutika, die alle – inklusive ihrer wirkstoffähnlichen Nachfolgerprodukte, den Biosimilars – besser abbaubar sind. Denn Biopharmazeutika sind Arzneistoffe, die nicht durch chemische Synthese, sondern mit Hilfe tierischer oder pflanzlicher Organismen gentechnisch hergestellt werden, beispielsweise mit Hilfe Hefe- oder pflanzlichen Gewebekulturen oder Säugetierzellen. Alle Arzneimittel, die aus natürlichen Stoffen wie Vitaminen, Elektrolyten, Aminosäuren oder pflanzlichen Substanzen bestehen, sind aufgrund ihrer natürlichen Herkunft kein Problem für die Umwelt.

Personalisierte Medizin

Bei der sogenannten Personalisierten Medizin stützt sich die Therapie nicht nur auf die Krankheitsdiagnose. Sondern mittels diagnostischer Tests werden vor einer Behandlung genetische, molekulare und zelluläre Besonderheiten des Patienten ermittelt, so dass die Therapie passgenauer erfolgen kann. Damit kann schon vorab geklärt werden, ob das Medikament voraussichtlich bei diesem Patienten wirksam ist, ob er es verträgt und wie es am besten dosiert werden kann. Das erspart Ärzten und Patienten einiges an Versuch und Irrtum. Ein Beispiel: Die Wirkstoffe Cetuximab und Panitumumab können bei fortgeschrittenem Darmkrebs nur wirken, wenn bei dem Patienten ein bestimmtes Gen noch nicht mutiert ist. Mit einem mittlerweile verpflichtenden Gentest lässt sich das bei einer Gewebeprobe aus dem Tumor vorab feststellen.

Viele Bürger in Deutschland sind verunsichert: Wohin denn nun mit den übrig gebliebenen Tabletten, Säften, Zäpfchen, Tropfen, Sprays und Spritzen?
Denn leider gibt es in Deutschland keine einheitliche Regelung, wie Arzneimittel entsorgt werden sollen.

Jeder Landkreis, jede Kommune gibt andere Empfehlungen. Doch es gilt in jedem Fall: „Arzneimittelreste gehören niemals in die Toilette oder in den Ausguss“, warnt Dr. Thomas Kullick vom Verband der Chemischen Industrie e.V. (VCI) „Das gilt auch für flüssige Arzneimittelreste wie Tropfen oder Säfte.“ Denn über WC oder Spüle gelangen Arzneistoffe, mit denen die Klärwerke nicht immer fertig werden, in die Gewässer. „In den meisten Fällen können Arzneimittelreste in der Restmülltonne entsorgt werden“, so Kullick. „Denn so ist sichergestellt, dass die Medikamente verbrannt und die Wirkstoffe zerstört werden und nicht mehr in der Umwelt landen.“

Deutschlandkarte gibt Überblick

Im Rahmen der Fördermaßnahme RiSKWa („Risikomanagement von neuen Schadstoffen und Krankheitserregern im Wasserkreislauf“) des Bundesministeriums für Bildung und Forschung wurde eine Deutschlandkarte erarbeitet (www.arzneimittelentsorgung.de): Wenn die Bürger auf ihr Bundesland und anschließend auf ihren Landkreis oder ihre Kommune klicken, werden die jeweiligen Empfehlungen angezeigt. So sollen die Bürger im Weimarer Land möglichst über Schadstoffmobile entsorgen, das sind speziell für Arzneimittel vorgesehene Schadstoff-Sammelstellen. In der Stadt Braunschweig ist der Hausmüll, in Berlin die Entsorgung über Apotheken oder Recycling-Höfe empfohlen. Ein Teil der Apotheken bietet es freiwillig an, Medikamente zurückzunehmen und sich um die Entsorgung zu kümmern.

Best Practice: Projekt „Den Spurenstoffen auf der Spur in Dülmen“ (DSADS)

In der Spurenstoffstrategie des Bundes wird empfohlen, die Bevölkerung für Konsum und Entsorgung von Arzneimitteln zu sensibilisieren. Das hat sich das Projekt „Den Spurenstoffen auf der Spur in Dülmen“ – kurz DSADS – auf die Fahnen geschrieben, bei dem das Land NRW, die Stadt Dülmen und der Wasserwirtschaftsverband Lippeverband zusammengearbeitet haben. Mit Info-Material, Workshops und Bürgerforen werden Bürger, aber auch Ärzte und Krankenhäuser aufgeklärt, gleichzeitig wird die Dülmener Kläranlage mit einer Aktivkohlestufe ausgestattet. Das Ergebnis von Befragungen: Das Wissen um die Gewässerbelastungen ist gestiegen und die Bürger wählten häufiger die richtigen Entsorgungswege. DSADS war Teil des europäischen Projekts „noPILLS in waters“.

Ärzte: Bessere Kenntnisse

Auch Ärzte gilt es, in den Blick zu nehmen. Eine Umfrage des Forschungsverbundes sauber+ ergab, dass sich nur etwa 15 Prozent der befragten Ärzte gut über Umweltauswirkungen von Arzneimitteln informiert fühlen. Eine intensivere Ausbildung in der Pharmakologie, die auch die Umweltrelevanz der Arzneimittel berücksichtigt, könnte Abhilfe schaffen. In Krankenhäusern können Stationsapotheker – also Apotheker, die den einzelnen Stationen beratend zur Seite stehen – dafür sorgen, dass Umweltaspekte bei der Vergabe von Medikamenten stärker berücksichtigt werden, wenn dieses mit dem therapeutischen Konzept für den Patienten im Einklang steht. Zwar tragen Krankenhäuser deutlich weniger zur Belastung der Gewässer bei als Privathaushalte, doch Krankenhaus-Patienten hinterlassen in höheren Mengen problematische Wirkstoffe, wie Antibiotika, Zytostatika oder Röntgenkontrastmittel.

Best Practice: Projekt „Merk’ mal“ in Mühlheim

Weil Röntgenkontrastmittel in Kläranlagen besonders schwer zu eliminieren sind, hat die Stadt Mühlheim ein Pilotprojekt gestartet. Es wurde ein spezielles Sammlungskonzept initiiert, damit weniger Röntgenkontrastmittel in die Ruhr fließen. In zwei Krankenhäusern und zwei radiologischen Praxen wurden an insgesamt 2.200 Patienten Urinbeutel verteilt. Die Patienten konnten die Beutel nach Benutzung ohne Probleme im Restmüll entsorgen, da ein spezielles Pulver den aufgefangenen Urin in ein geruchloses Gel verwandelt hat. Ergebnis: Allein in Mühlheim konnten jährlich mehrere hundert Kilogramm an Röntgenkontrastmitteln zurückgehalten werden. Das Projekt mit dem Namen „Merk’ mal“ stand unter der Federführung der örtlichen Wasserwirtschaft.

Die meisten Spurenstoffe von Arzneimitteln gelangen über das behandelte Abwasser kommunaler Kläranlagen in die Flüsse, Bäche und Seen. Denn die dreistufige Behandlung in den Klärwerken, die eine mechanische, biologische und chemische Behandlung umfasst, ist nicht dazu ausgelegt, Mikroverunreinigungen durch schwer abbaubare Verbindungen zu eliminieren.

Eine sogenannte vierte Reinigungsstufe könnte eine der möglichen Lösungen sein. „Mit einer geeigneten zusätzlichen Reinigungsstufe lassen sich viele Mikroverunreinigungen entfernen – andere allerdings nicht oder nur teilweise“, sagt Dr. Thomas Kullick vom Verband der Chemischen Industrie e.V. (VCI). Zwei Verfahren haben sich als praktikabel und effektiv erwiesen: Zum einen die Ozonbehandlung des Abwassers, zum anderen die Behandlung durch Aktivkohle. In Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg sind bereits 19 Kläranlagen mit einer vierten Reinigungsstufe ausgestattet. „Wenn die größten und von jeweiligen Spurenstoffen betroffenen Kläranlagen ausbauen würden, könnte damit die Hälfte der Abwassermenge in Deutschland behandelt und damit Mikroverunreinigungen signifikant reduziert werden“, sagt Kullick.

Doch auch die beste Technik kann nicht alle Spurenstoffe eliminieren. Die vierte Reinigungsstufe ist sicher nur ein Teil der Lösung. Die pulverisierte Aktivkohle, die zum Klären benutzt wird, kann nicht regeneriert werden. Das heißt, es wird viel davon verbraucht, was nicht nachhaltig ist. Und bei der Ozonbehandlung können sich weitere Abbauprodukte bilden, mit unklarer Wirkung. Um sowohl dem Interesse nach wirksamen Arzneimitteln als auch dem Umweltschutz Rechnung zu tragen, dürfte letztlich ein Bündel von Maßnahmen notwendig sein.

Rinder, Schweine, Hühner, Puten, Gänse, Schafe, Ziegen und Pferde: Nutztiere in der Landwirtschaft werden mit Tierarzneimitteln behandelt.

Die Massentierhaltung wäre ohne Medikamente nicht möglich. Die Nutztiere bekommen vor allem Mittel gegen Parasiten, Entzündungshemmer, hormonell wirksame Substanzen und Antibiotika. „Es ist allerdings positiv zu verzeichnen, dass der Verbrauch von Antibiotika in der Veterinärmedizin in den letzten Jahren um über die Hälfte gesunken ist“, betont Dr. Jens Peters, Geschäftsfeldleiter Tierarzneimittel beim Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V. „und zwar von 1.706 Tonnen im Jahr 2011 auf 733 Tonnen im Jahr 2017.“

Die Rückstände gelangen hauptsächlich indirekt über Gülle, Jauche und Mist auf die Felder, die dort als natürlicher Dünger unverzichtbar sind. Dort können die Spurenstoffe in die Seen und Flüsse abgeschwemmt werden, wenn es stark regnet, oder ins Grundwasser versickern. Daneben gelangen die Spurenstoffe auch direkt über die Ausscheidungen von weidenden Tieren, die mit Arzneimitteln behandelt wurden, in die Böden oder angrenzenden Gewässer.

Zulassung kann bei Tierarzneimitteln verwehrt werden

Im Unterschied zu Humanarzneimitteln kann Tierarzneimitteln die Zulassung versagt werden, da Umweltaspekte in die Nutzen-Risiko-Bewertung mit einfließen. Eine Verbesserung der Tierhaltung und der Hygienebedingungen könnte den Einsatz von Medikamenten reduzieren. Ziel der Bundesregierung in der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie ist es, den Anteil von ökologischer Landwirtschaft auf 20 Prozent zu erhöhen. Derzeit liegt er bei nur sechs Prozent. Tierarzneimittel sind allerdings nicht Gegenstand der Spurenstoffstrategie des Bundes.

Ein Interview mit Dr. Claudia Thierbach, Fachgebietsleiterin Arzneimittel, Wasch- und Reinigungsmittel beim Umweltbundesamt in Dessau – der zentralen Umweltbehörde in Deutschland.

Wie schätzen Sie die Risiken von Arzneistoffen in der Umwelt ein?

Dr. Claudia Thierbach: Spurenstoffe von Arzneimitteln werden bei Messungen in den Gewässern durch die Bundesländer immer wieder entdeckt, und zwar flächendeckend. Die Konzentrationen sind zwar nicht hoch, aber die Studien, die die Pharmafirmen bei der Zulassung einreichen müssen, deuten auf Risiken für Fische, Wasserflöhe und Algen hin – teilweise auch schon in den Konzentrationen, die wir in den Gewässern vorfinden.

Und wie beurteilt das Umweltbundesamt die Risiken für den Menschen?

Dr. Claudia Thierbach: Die Spuren von Arzneistoffen, die wir im Trinkwasser finden, sind weit entfernt von jeder therapeutischen Dosis. Diese Spurenstoffe sind zwar unerwünscht, aber nach heutigem Stand der Wissenschaft besteht keine akute Gesundheitsgefahr. Doch man kann sich nicht sicher sein. Gerade weil viele Arzneimittelwirkstoffe schlecht abbaubar sind, können sie sich in der Umwelt anreichern, wenn immer weiter und immer mehr Arzneimittelwirkstoffe in die Gewässer gelangen.

Wie sieht es denn mit Schwellenwerten aus?

Dr. Claudia Thierbach: Wir wünschen uns, dass Arzneimittel in der Umwelt ähnlich behandelt werden wie Biozide oder Pflanzenschutzmittel. Für diese Chemikalien gibt es Grenzwerte in den entsprechenden europäischen und nationalen Regelungen. Auch wenn Arzneimittel eine besondere Rolle für unsere Gesundheit spielen: Der Umwelt ist es egal, ob die Mikroverunreinigungen von Arzneimitteln oder anderen Chemikalien herrühren. Doch Arzneimittel sind bisher von allen Regelungen ausgenommen.

Was erwartet das Umweltbundesamt von den pharmazeutischen Unternehmen?

Dr. Claudia Thierbach: Ich beschränke mich auf die Zulassung: Wir brauchen für alle Wirkstoffe Studien zur Umweltrelevanz – auch für die Medikamente, die vor 2006 zugelassen wurden. Die Umweltprüfung für Humanarzneimittel ist ja erst zu diesem Zeitpunkt eingeführt worden. Wir wünschen uns, dass auch Generika – also Nachahmerpräparate, die häufig auf einem Wirkstoff dieser Altarzneien beruhen – eine solche Umweltprüfung durchlaufen, bevor sie auf den Markt kommen. Da die Generika-Industrie sich häufig über die Kosten der Umweltstudien beklagt, schlagen wir vor, dass die Pharmafirmen sich zusammentun und gemeinsam die Untersuchungen zu einem Wirkstoff finanzieren.

Was ist aus Ihrer Sicht Aufgabe der Wasserwirtschaft?

Dr. Claudia Thierbach: Das kommunale Abwasser stellt ein Sammelbecken für viele Stoffe und somit auch für Mikroverunreinigungen dar. Für viele Mikroverunreinigungen ist es der Haupteintragspfad in die Gewässer. Die derzeitigen rechtlichen Anforderungen genügen nicht, biologisch schwer abbaubare Verbindungen zu eliminieren. Erst mithilfe einer weitergehenden, vierten Reinigungsstufe lässt sich ein breites Spektrum an Mikroverunreinigungen, die durch den Menschen verursacht werden, entfernen. Für eine derartige zusätzliche Reinigungsstufe haben sich in der Praxis zwei Verfahren als großtechnisch zu verhältnismäßigen Kosten einsetzbar erwiesen: die Oxidation mit Ozon und die Adsorption mithilfe von Aktivkohle.

Zunächst gilt es, die relevanten Spurenstoffe, die reduziert werden sollen, zu benennen. Welche Technik eingesetzt wird, hängt von der bereits bestehenden Kläranlage, der Gewässersituation vor Ort und den dort eingeleiteten Stoffen ab. Dafür soll im Spurenstoffdialog ein Orientierungsrahmen geschaffen werden, aufgrund dessen die Bundesländer entscheiden können, an welcher Kläranlage eine Nachrüstung wasserwirtschaftlich sinnvoll ist. Aus Umweltsicht steht die Abwasserwirtschaft aber am Ende einer Kette von erforderlichen Maßnahmen.

Wo setzen denn die ersten Maßnahmen an?

Dr. Claudia Thierbach: Die beginnen bei jedem Einzelnen von uns. Wir alle sollten bewusster mit Arzneimitteln umgehen. Keine Frage: Medikamente sind oft hilfreich und notwendig. Doch muss ich bei leichten Kopfschmerzen beispielsweise sofort zu einer Schmerztablette greifen? Ich kann es erst mal mit Entspannungsübungen probieren oder an die frische Luft gehen. Überhaupt kann ein gesunder Lebensstil wie vollwertige Ernährung, ausreichend Bewegung und Schlaf viele Arzneimittel unnötig machen. Schließlich sind Zivilisationskrankheiten wie Bluthochdruck oder Diabetes auch auf eine ungesunde Lebensweise zurückzuführen. Wenn man Kinder nicht krank in die Kita schickt oder sich mit einer Grippe zur Arbeit schleppt, lassen sich außerdem viele Infektionen und damit auch Medikamente vermeiden. So ist jeder Einzelne an dem Problem Arzneimittel in der Umwelt beteiligt.

  • nur 15 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher ihre Medikamente richtig entsorgen? (Quelle: ISOE-Umfrage)
     
  • zwei Drittel (68 Prozent) der Unternehmen im Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V. Umweltmaßnahmen initiiert haben? Darunter unter anderem die Teilnahme an Entsorgungsprogrammen für Verpackungen, Entsorgung für Altmedikamente und Gutachten zu eventuellen Umweltbelastungen. Das ergab eine interne Verbandsumfrage im April 2018. (Quelle: BPI)
     
  • mit Aktivkohle als vierter Reinigungsstufe in Kläranlagen nahezu 100 Prozent der Rückstände des Antibiotikums Clarithromycin und des Hormons Estron beseitigt werden können? Und mit Ozonung als vierte Reinigungsstufe können Rückstände folgender Arzneimittel fast vollständig aus dem Wasser gefiltert werden: Diclofenac (Schmerzmittel), Carbamazepin (Antiepileptikum), Clindamycin (Antibiotikum), Sotalol (Betablocker) und Estron (Hormon). (Quelle: Vortrag Prof. Dr.-Ing. Peter Krebs, TU Dresden, bei der Tagung „Medizin trifft Kläranlage“ in Dresden am 23. April 2018)
     
  • im Trinkwasser einzelne Proben zum Beispiel von dem Schmerzmittel Diclofenac (sechs Milliardstel Gramm pro Liter) gefunden wurde. Das heißt: Sie müssten 70 Jahre lang täglich zwei Liter Wasser trinken, um auf ein Hundertstel der therapeutischen Tagesdosis zu kommen. (Quelle: DSAS)

https://www.umweltbundesamt.de/daten/chemikalien/arzneimittel-in-der-umwelt

Umweltbundesamt (Hrsg.): Arzneimittel in der Umwelt – vermeiden, reduzieren, überwachen. Hintergrund, April 2014
https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/378/publikationen/01.08.2014_hintergrundpapier_arzneimittel_final_.pdf

Umweltbundesamt (Hrsg.): Empfehlungen zur Reduzierung von Mikroverunreinigungen in den Gewässern. Hintergrund, April 2018
https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/1410/publikationen/uba_pos_mikroverunreinigung_final_bf.pdf

Umweltbundesamt/Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: Minimierung des Eintrags von Humanarzneimitteln in das Rohwasser (MinimEHR), März 2017:
https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Arzneimittel/Zulassung/ZulRelThemen/HumanAM-Umwelt/HumanAM-Umwelt.pdf?__blob=publicationFile&v=4

Umweltbundesamt (Hrsg.): Organische Mikroverunreinigungen in Gewässern – Vierte Reinigungsstufe für weniger Einträge, Position, März 2015: https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/organische-mikroverunreinigungen-in-gewaessern
www.dialog-spurenstoffstrategie.de

Policy Paper: Empfehlungen des Stakeholder-Dialogs „Spurenstoffstrategie des Bundes, An die Politik zur Reduktion von Spurenstoffeinträgen in die Gewässer, Juni 2017:
https://www.dialog-spurenstoffstrategie.de/spurenstoffe-wAssets/docs/PolicyPapier_FINAL.pdf

BMBF-Fördermaßnahme RiSKWa: http://riskwa.de

www.arzneimittelentsorgung.de (Wissenschaftliches Begleitvorhaben der BMBF-Fördermaßnahme RiSKWa)

Umfragen des Instituts für sozial-ökologische Forschung (ISOE) zur Entsorgung:
https://idw-online.de/de/news589075

Jaeckel, Liv: Arzneimittelrückstände in Gewässern – Neue Ansätze zur Bewältigung. In: Deutsches Verwaltungsblatt (DVBI) 21, 2018.

Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (B.A.H) e.V.: Der Arzneimittelmarkt in Deutschland 2017.
https://www.bah-bonn.de/bah/?type=565&file=redakteur_filesystem%2Fpublic%2FBah_Zahlenbroschuer22017_web.pdf

Infos des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie (BPI) e.V.: www.bpi.de/de/alle-themen/umwelt

Ergebnisse der Phase 2 des Stakeholder-Dialogs „Spurenstoffstrategie des Bundes zur Umsetzung von Maßnahmen für die Reduktion von Spurenstoffeinträgen in die Gewässer, März 2019: https://www.bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Download_PDF/Binnengewaesser/ergebnispapier_stakeholder_dialog_phase2_bf.pdf

Gewässerschutz: https://www.vfa.de/de/wirtschaft-politik/artikel-wirtschaft-politik/arzneistoffe-im-wasser.html

Projekt „Den Spurenstoffen auf der Spur“ (DSADS):
http://www.dsads.de/worum-geht-es/

Projekt „Merk’ Mal“:
https://merkmal-ruhr.de

Veranstaltung „Medizin trifft Kläranlage“ am 23.4.2018 in Dresden (Vorträge zum Download):
https://www.stadtentwaesserung-dresden.de/infokanal/meldungen/detail/veranstaltung-am-2342018-medizin-trifft-klaeranlage.html

Forschungsprojekt iPiE („Intelligent Assessment of Pharmaceuticals in the Environment“):
http://i-pie.org